Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Lage jedoch anders entwickelt, dann werdet Ihr es sein, der sich am richtigen Platz befindet, um Eurem König und Eurem Gott eines Tages einen großen Dienst zu erweisen …
Am richtigen Platz befand er sich jetzt ohne Frage. Ein kaltes Lächeln glitt über sein Gesicht, als er daran dachte, wie ahnungslos sie waren, wer sich mitten unter ihnen befand. Unter keinen Umständen konnte er es deshalb riskieren, dass jemand von seinem Treffen mit Alava erfuhr.
Er bemühte sich, jedes Gefühl auszuschalten, während er erneut vor sich im Schein des Mondlichts die Hufabdrücke in dem feuchten Waldboden betrachtete. Es war ein einzelner Reiter, der dem Herzog gefolgt war. Das bedeutete, er hatte ihr Treffen im Jagdpavillon mitbekommen, und es war davon auszugehen, dass er sich nun an seine Fersen geheftet hatte. Ohne der Versuchung nachzugeben, sich umzudrehen oder sich sonst irgendetwas anmerken zu lassen, trieb San Lorenzo sein Pferd weiter. In einiger Entfernung ging es bergauf. Hinter dem Hügel würde er für einige Zeit aus dem Blickfeld seines Verfolgers verschwinden. Dort musste er zuschlagen. Er tastete unauffällig nach seiner Pistole, doch dann beschloss er, den Degen zu nehmen. Es musste lautlos geschehen und wie ein Überfall aussehen. Er würde die Leiche im Gebüsch verstecken.
San Lorenzo wartete, bis er den höchsten Punkt der Steigung erreicht hatte, und trieb das Pferd dann scharf nach links zwischen die dunklen Bäume und Sträucher. Lautlos glitt er aus dem Sattel und versteckte sich hinter einer der großen alten Eichen.
Im ersten Moment hätte er seinen Verfolger fast übersehen, denn er ritt auf einem schwarzen Pferd und trug selbst einen schwarzgrünen Umhang mit Kapuze. Dabei hielt er sich so dicht an den Bäumen, dass er sich kaum vom Hintergrund des Waldes abhob.
San Lorenzo spürte, wie ihn eine eigentümliche Kälte ergriff. Er fasste den Griff seines Degens fester. Nur jemand, der sehr geübt darin war, Menschen zu beschatten, wusste sich in dieser Weise an die Umgebung anzupassen.
Man konnte hören, wie der gedämpfte Hufschlag des Pferdes immer näher kam.
San Lorenzo wich mit gezogener Waffe weiter hinter dem Baum zurück und verharrte bewegungslos, bis das Tier mit dem Reiter fast auf seiner Höhe war. Dann setzte er zum Sprung an, hob den Arm und bohrte seinen Degen mit einem einzigen schnellen Stoß von unten in die linke Körperseite des Mannes – dorthin, wo sich das Herz befand.
St. Angela, 1566
11
D ie Äbtissin hatte die Wahrheit gesagt, der Alltag bei den Zisterzienserinnen war schlicht und einfach.
Alles, was sie täten, sei ganz darauf ausgerichtet, sie auf das Leben vorzubereiten, das sie einmal erwarten würde, ob als Dienstmagd, Ehefrau oder Nonne – das wurde die Oberin nicht müde, Madeleine und den anderen Mädchen zu erklären.
Die Tage verliefen in einem immer gleichen und strengen Rhythmus: Sie hatten zu beten, zur Messe zu gehen, wurden im Katechismus unterrichtet und verbrachten die übrige Zeit beim Nähen, Sticken, beim Wollespinnen, in der Küche und im Waschhaus.
Es war schrecklich! Madeleine hatte noch nie viel für häusliche Tätigkeiten übriggehabt. Nun musste sie mit einem Mal den größten Teil des Tages damit verbringen und war noch dazu nicht besonders gewandt in diesen Dingen. So geschickt sie dabei gewesen war, wenn sie dem alten Apotheker beim Abwiegen und Messen geholfen hatte, bei den Handarbeiten schien sie zwei lin ke Hände zu haben. Vor allem das Sticken und Nähen, auf das die Nonnen großen Wert legten, war ihr zuwider. Madeleine stach sich dabei so oft in den Finger, dass ihr Stoff oft ganz blutig war und Schwester Marie, die die Mädchen überwachte, sie schließlich nur noch an einem groben Stück Sandleinen üben ließ.
»Jeder kann das lernen!«, sagte die Nonne streng.
»Du wirst wohl später nur als Stallmagd taugen!«, stichelte Françoise, eines der anderen Mädchen.
Madeleine bedachte sie mit einem aufgebrachten Blick. Von Anfang an hatte Françoise keine Gelegenheit ausgelassen, sich über sie lustig zu machen.
»Sie bildet sich nur was ein, weil sie eine Kostgängerin ist«, erklärte Louise später achselzuckend. Françoise stammte wie sie aus einfachen Verhältnissen, aber ihr Bruder, der Soldat war, zahlte etwas Geld für ihre Unterkunft und ihr Essen, erzählte sie. Außerdem spendete er zu den Feiertagen regelmäßig einige Münzen an das Kloster, damit man Messen für ihre verstorbenen Eltern lesen ließ.
Weitere Kostenlose Bücher