Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
»Wirklich?« Mit einem Mal verstand Madeleine, warum die immer herrische Oberin, die die anderen Mädchen so gerne ihren Stock spüren ließ, Françoise stets mit ausgesuchter Höflichkeit behandelte.
Sie selbst hasste das Leben im Kloster – die Unselbstständig keit, der Zwang und die strenge Hierarchie, in die sie sich einordnen musste, das alles fiel ihr schwer. Sie fühlte sich, als wäre sie zwölf und nicht achtzehn Jahre alt. Mehr als einmal hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, einfach wegzulaufen. Sie sprach mit Louise darüber, die der einzige Lichtblick in St. Angela war.
»Und wo willst du dann hin?«, fragte diese sie in ihrer boden ständigen Art. Die dunklen Locken fielen ihr ins Gesicht, während sie Madeleine anblickte und dabei, wie so oft, an einem alten Brotkanten knabberte, da sie von einem ständigen Heißhunger geplagt wurde.
Madeleine konnte Louise keine rechte Antwort geben. Hätte sie gewusst, wohin sie gehen sollte, vielleicht wäre sie tatsächlich verschwunden. Doch sie besaß nicht einmal ein paar Münzen, um sich etwas zu essen zu kaufen. Zudem trafen im Kloster täglich neue beunruhigende Nachrichten ein. In den spanischen Niederlanden – kaum mehr als hundert Meilen nördlich der Champagne – sei ein Aufstand ausgebrochen, berichtete man. Der protestantische Adel der Niederlande habe sich gegen die Statthalterin, Margarethe von Parma, die Halbschwester des spanischen Königs, erhoben, und in Westflandern hätten Tausende Anhänger des neuen Glaubens die katholischen Kirchen gestürmt und Heiligenbilder und Marienstatuen zerstört. Die Nonnen liefen mit besorgten Gesichtern herum. Sie beteten und lasen Messen für ihre katholischen Glaubensgenossen. »Der Allmächtige bewahre uns davor, dass diese Ketzer in den Niederlanden auch noch die Überhand erringen«, sagte Schwester Marie mehrmals und bekreuzigte sich dabei voller Angst.
Auch in Frankreich wurde von immer neuen Übergriffen zwi schen Hugenotten und Katholiken berichtet, und Madeleine musste zugeben, dass sie im Kloster zumindest in Sicherheit war. Tief in ihrem Inneren gab es aber noch einen anderen Grund, warum sie das Gefühl hatte, bleiben zu müssen – ihre Mutter. So unerträglich Madeleine das Leben in St. Angela fand, sie hätte Schuldgefühle verspürt, den Letzten Willen von ihr nicht zu respektieren.
Mit zusammengebissenen Zähnen mühte sie sich daher Nachmittag für Nachmittag weiter mit Nadel und Faden ab und ließ die Ermahnungen und Zurechtweisungen der Nonnen wie einen prasselnden Regen über sich ergehen.
Eines Tages entriss ihr Schwester Marie schließlich mit einem gottergebenen Seufzer das Stück Stoff und befahl ihr mitzu kommen.
Madeleine blickte sie eingeschüchtert an und folgte ihr. Wollte man sie etwa erneut bestrafen? Sie dachte an die Schläge der Oberin, die sie schon des Öfteren zu spüren bekommen hatte. Noch einmal würde sie diese Demütigung nicht über sich ergehen lassen, schwor sie sich. Eher würde sie doch davonlaufen.
Sie sah, dass sie das Haupthaus verließen und weiter über den Hof zu den Nebengebäuden des Klosters liefen. Dort betraten sie einen einer Küche ähnelnden Raum, in dem eine ältere Nonne saß.
»Das hier ist Schwester Philippa«, begann Schwester Marie. »Sie ist für den Kräutergarten und die Krankenpflege zuständig. Vielleicht kannst du dich bei ihr etwas nützlich machen«, fügte sie dann kopfschüttelnd hinzu.
12
S chwester Philippa besaß ein verwittertes altes Gesicht, aber ihre haselnussbraunen Augen wirkten so wach und lebendig wie die eines jungen Mädchens. Ohne große Worte reichte sie Madeleine einen Holzbottich mit jungem Löwenzahn.
»Nimm nur die Blätter und schneide die Wurzeln ab«, ordnete sie an und nahm wieder auf ihrem Schemel Platz.
Gehorsam machte Madeleine sich an die Arbeit. Der Raum weckte Erinnerungen an die Apotheke von Monsieur Legrand in ihr. Auch wenn man hier vermutlich keine Substanzen wie Opium in den Krügen und Töpfen finden würde. Alles, was es hier gab, stammte aus dem Kräutergarten und wurde als Medizin für die Bewohner des Klosters verwendet. Manchmal kamen jedoch auch Leute aus dem Dorf oder der Umgebung, die krank waren und sich keinen Arzt leisten konnten. »Und unsere Sorge für die Kranken steht vor und über allen anderen Pflichten«, erklärte die Nonne. »Das hat schon der heilige Benedikt gesagt.«
Sie war aufgestanden und schaute Madeleine bei der Arbeit über die Schulter. Ein
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