Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
auf und erkannte vor sich Monsieur Bruno, den Arzt und Chirurgen, der sie aus Châtillon begleitet hatte.
»Ich bräuchte dringend noch einmal Eure Hilfe«, sagte er.
Sie nickte. »Selbstverständlich«, antwortete sie und folgte ihm. Sie war ihm bereits am Vormittag mehrfach zur Hand gegangen, als ein Fuhrwagen mit Fässern umgekippt war und mehrere Verletzte versorgt werden mussten.
»Unten im Dorf befindet sich eine Frau in den Wehen«, erklärte er. »Das Kind liegt in der Steißlage in ihrem Becken, und sie braucht dringend Hilfe.« Er hastete ihr mit schnellen Schritten voraus. Ein angespannter Karren wartete vor den Ställen auf sie. Sobald sie Platz genommen hatten, ergriff Monsieur Bruno selbst die Zügel.
»Was tut man in so einem Fall?«, fragte sie ihn, während die Wachen den Wagen passieren ließen und sie das Schloss durch ein Seitentor verließen. Ihre Kehle schnürte sich bei dem Gedanken zu, wie gefährlich eine solche Geburt war.
»Das Kind muss sich unbedingt drehen – sonst können beide sterben. Notfalls müssen wir etwas nachhelfen und Raum durch einen Schnitt schaffen«, antwortete er grimmig.
Sie schwieg. Zu ihrer Überraschung bog der Arzt, kurz bevor sie die Ortschaft erreichten, in einen Feldweg ein. »Es ist die Frau eines Bauern – sie lebt auf dem Hof dort!«, sagte er und deutete dabei auf ein allein stehendes Steinhaus mit Scheune, das in einiger Entfernung sichtbar wurde.
Er trieb erneut die Pferde an, und wenig später hielten sie vor dem Haus.
»Kommt!«, sagte er kurz angebunden und sprang schon vom Bock. Sie folgte ihm hastig zu der Tür, die man bereits geöffnet hatte.
Auf dem Weg bemerkte sie, dass im Garten Unkraut wucherte und ein Fensterladen zerbrochen vor dem Haus lag. Alles wirkte ärmlich und seltsam ungepflegt. Sie trat hinter dem Arzt über die Schwelle – dabei fiel ihr Blick auf den staubigen, verdreckten Boden. Dann sah sie die Tür – sie hing schief in den Angeln – und den Mann, der davorstand. Er war eindeutig kein Bauer, stellte sie erstarrt fest, denn er war bewaffnet.
Madeleine blickte ihn entsetzt an. Als sie den Mund öffnen wollte, um zu schreien, war es bereits zu spät. Der Unbekannte ergriff sie grob am Arm. Die Spitze eines Dolches blitzte vor ihren Augen auf.
»Man erwartet Euch, Mademoiselle!«
Ihr Kopf fuhr zu Doktor Bruno herum, der ihrem Blick auswich, dann wurde sie auch schon den schmalen Flur entlanggezerrt, an dessen Ende der Unbekannte sie in einen Raum stieß.
Es war ein mittelgroßes Zimmer, das genauso verdreckt und staubig wie der Rest des Hauses war. Sie begriff, dass hier wahrscheinlich schon seit Jahren niemand mehr wohnte.
Dann erblickte sie den Mann, der in der Mitte des Raumes stand. In seinem eleganten Umhang und den feinen Lederhandschuhen wirkte er seltsam deplatziert.
Ihr Herz raste, als sie ihn erkannte.
Ausdruckslos musterte er sie. »Guten Tag, Madeleine«, sagte er schließlich. Es war der Geheimdienstchef Lebrun.
102
N icolas fuhr sich müde mit der Hand über seine Narbe. Seit dem Morgen hatte er mit dem Admiral, dessen Bruder François de Châtillon, dem Prinzen de Condé und ihren wichtigsten Offizieren zusammengesessen und überlegt, was sie am besten tun sollten. Sie waren zu keiner Entscheidung gekommen. Vielleicht war ihre Angst einfach übertrieben? Doch wenn nicht – wie sollten sie die Menschen alle in Sicherheit bringen? Es waren Frauen und Kinder dabei, und sie würden die Loire überqueren müssen. Man würde sie niemals eine der Brücken des Flusses passieren lassen. Die Soldaten des Königs würden das zu verhindern wissen, und wenn nicht sie, dann irgendwelche Ligatruppen.
Mit angespannter Miene lief er durch die Halle und fragte sich, wo Madeleine wohl war. Sie hatte am Vormittag Monsieur Bruno geholfen. Seitdem sie Châtillon verlassen hatten, waren die Momente, in denen sie sich allein sehen konnten, rar. Er machte sich Sorgen um sie, denn er war sich nicht sicher, ob ihr bewusst war, in welcher Gefahr sie sich in diesen Zeiten als Katholikin hier befand.
Madame Maineville kam ihm von der anderen Seite der Halle entgegen, und er ging auf sie zu. »Verzeiht, wisst Ihr vielleicht, ob Madeleine noch bei Monsieur Bruno ist?«
Sie nickte. »Ja, Monsieur de Vardes. Er hat sie mit ins Dorf genommen. Eine Frau liegt dort in den Wehen, und ihr Kind will sich nicht drehen …«
Er schaute sie ungläubig an. »Sie hat das Schloss verlassen?«
Die Haushälterin nickte. »Ja, aber Doktor
Weitere Kostenlose Bücher