Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Bruno ist ja bei ihr. Ihr braucht nicht beunruhigt zu sein«, sagte sie. Doch sein Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen.
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M adeleine blickte versteinert auf die Briefe, die der Geheimdienstchef mit einer nachdrücklichen Bewegung vor sie auf den wackligen Tisch gelegt hatte. Es waren ihre Berichte.
»Beantworte mir eine Frage. Hältst du mich für dumm?« Eine gefährliche Ruhe lag in Lebruns Stimme.
Madeleine schluckte. »Nein, natürlich nicht!«, antwortete sie schließlich. Er hatte ihr befohlen, auf einem schäbigen Holzschemel Platz zu nehmen, war selbst aber stehen geblieben. Ihre Augen glitten zu den beiden bewaffneten Männern, die sich mit ihnen im Raum befanden und mit unbewegter Miene hinten an der Wand standen.
Er deutete auf den Tisch. »Wie erklärst du mir dann diese Briefe voller unwichtiger und unbedeutender Details, in denen du uns nicht eine einzige nützliche Information zukommen lässt?«
»Aber ich habe nur aufgeschrieben, was mir aufgefallen ist …«, versuchte sie zu erklären. Lebrun brachte sie mit einer abrupten Handbewegung zum Schweigen. »In der Regel hättest du deine Chance verwirkt, und ich würde dich angemessen bestrafen lassen«, sagte er kalt. Sein Kopf hatte sich kaum wahrnehmbar zu den Männern hinter ihm gewandt, und Madeleine spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Sie hatte Angst, schreckliche Angst.
Er baute sich vor ihr auf. »Ich muss zugeben, dass ich überlegt habe, auch genau das zu tun, als ich deine Briefe gelesen habe«, fuhr er mit eisiger Miene fort. Sein Gesicht mit den bläulichen Augenschatten beugte sich zu ihr heran, so dicht, dass sie für einen kurzen Moment seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. »Nun, ich bin jemand, der die Dinge stets durchdenkt, und deshalb habe ich mich gefragt, wieso du das tust! Ich habe dein Gesicht gesehen, als du erfahren hast, was mit deiner Großmutter geschehen ist, und ich weiß, wie viel Angst du hast, noch einmal in die Hände der Guise zu fallen. Du müsstest dumm sein, um nicht zu erkennen, welche Konsequenzen dein Verhalten haben wird. Aber das bist du nicht. Im Gegenteil, du bist intelligent und zwar durchaus mutig, aber nicht waghalsig veranlagt. Was ohnehin nur ein Zeichen minderer Intelligenz wäre«, fügte er ab schätzig hinzu. »Also ist mir aufgegangen, dass es einen Grund für dein Verhalten geben muss. Etwas, das ich übersehen oder nicht beachtet habe, als ich dich auf deine Aufgaben vorbereitet habe!«
Madeleine erschrak. Es kam ihr selbst plötzlich geradezu wahnwitzig vor, dass sie wirklich geglaubt hatte, ihn mit den Briefen täuschen zu können.
Lebrun war mit nachdenklicher Miene einige Schritte durch den Raum gelaufen, bevor er sich erneut zu ihr drehte. »Ich begriff, dass im letzten Sommer, in den wenigen Tagen, die du in Châtillon warst, etwas passiert sein musste, das deine Loyalität gegenüber den Hugenotten in ungewöhnlicher Weise gefestigt hat. Etwas, das du mir nicht erzählt hast, weil es dir persönlich etwas bedeutete. Und dafür fiel mir nur ein Grund ein – ein Mann!«
Madeleines Hand verkrampfte sich in der Falte ihres Rocks. Mühsam kämpfte sie um Beherrschung.
Er lächelte schmallippig, als ärgerte er sich selbst, nicht früher darauf gekommen zu sein. »Folglich habe ich mich gefragt, um wen es sich dabei wohl handeln könnte. Ich bin zunächst auf Ronsard gekommen. Er ist attraktiv und ein Mann, der bei Frauen seine Wirkung nicht verfehlt, doch du hast in deinen Briefen zu viel und gleichgültig über ihn geschrieben. Für einen kurzen Moment habe ich sogar erwogen, ob es sich um den Admiral selbst handeln könnte. Doch dann fiel mir auf, dass es einen Mann gab, über den du nie gesprochen hattest und auf meine Fragen hin behauptetest, kaum etwas zu wissen!«
Madeleine war blass geworden.
»Nicolas de Vardes!«, verkündete er.
Ihr Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, als er seinen Namen nannte. Doch sie wusste, dass es zwecklos war, es zu leugnen.
Der Geheimdienstchef ließ ihr einen Moment Zeit, sich zu fangen. »Ich muss zugeben, du hast mich überrascht. Ich war mir sicher, dass ich wüsste, was in dir vorgeht«, sagte er dann. Fast hörte es sich so an, als würde er ihr dafür einen gewissen Respekt zollen. »Nun, zu deinem Glück bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dein Verhältnis zu Monsieur de Vardes für uns nur von Vorteil sein kann. Du wirst leichter an Informationen herankommen, und man wird dir stärker
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