Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Hand strich über ihre Taille. »Stört es dich? Dass du nur meine Geliebte bist?«
Madeleine blickte ihn erstaunt an. Was sonst hätte sie sein sollen? Auch wenn die Zeiten und das Leben auf Châtillon es mit sich brachten, dass die Unterschiede zwischen ihnen weniger deutlich waren, klafften Welten zwischen ihnen, denn er war ein Mann von Stand. Sie wusste, dass Nicolas aus einer alten ange sehenen Adelsfamilie stammte, die den Titel der Grafen de Vardes führte. Sie selbst dagegen kam aus einfachen Verhältnissen, aus dem Volk, und hatte noch dazu eine Großmutter, die als Hexe verbrannt worden war. Wie hätte sie jemals etwas anderes sein können als seine Geliebte? Und zu mehr hätte sie, so wie sie sich verhielt, auch kein Recht gehabt, dachte sie voller Bitterkeit. Eine jähe Angst flammte in ihr auf, was geschehen würde, falls Nicolas jemals erfuhr, was sie tat.
»Nein. Es ist wundervoll, deine Geliebte zu sein«, sagte sie dann leise und küsste ihn, bevor er etwas sagen konnte.
Später, als sie sich wieder anzogen und er ihr half, ihr Kleid zu schließen, legte er ihr mit einem Mal die Hände auf die Schultern. »Madeleine, ich muss dir etwas mitteilen … wir werden Châtillon verlassen!«, sagte er unerwartet.
Sie blickte ihn verwirrt an und glaubte im ersten Augenblick, sich verhört zu haben. Doch dann erinnerte sie sich, wie ernst er ihr schon vorhin erschienen war. »Warum?«, fragte sie schließlich.
»Reine Vorsicht. Wir haben nicht weit von hier, in Gien, könig liche Truppen gesichtet und werden uns mit dem Admiral und den wichtigsten Leuten nach Tanlay begeben, zu Colignys Bruder. Dort können wir uns notfalls sofort mit dem Prinzen de Condé und seinem Gefolge zusammenschließen und uns beraten, was weiter geschieht!«
Sie erschrak. Dabei wusste sie selbst von den täglichen Gesprächen, wie gefährlich sich die politische Lage in den letzten Wochen zugespitzt hatte. Seitdem in den Niederlanden die Grafen d’Egmont und Hornes hingerichtet worden waren, befürchtete man in Châtillon das Schlimmste. Schon seit Längerem war bekannt, dass die Guise kurz nach dem Friedensschluss ein geheimes Abkommen mit Philipp von Spanien und dem Papst geschlossen hatten, das einen Kreuzzug gegen die Protestanten in Europa zum Ziel hatte. Nun aber kursierten auch noch Gerüchte, dass die Medici gegenüber dem spanischen Botschafter geäußert hätte, dass man mit Coligny und Condé in Frankreich das Gleiche tun solle wie mit Egmont und Hornes.
»Steht es so schlimm?«, fragte sie.
»Ja. Die Lage ist ernst«, sagte Nicolas. »Wir werden morgen früh mit dem Admiral und den wichtigsten Offizieren aufbrechen – und ich möchte, dass du mit uns kommst. Ich will kein Risiko eingehen«, erklärte er. Er strich ihr durchs Haar.
Madeleine war blass geworden und nickte stumm.
101
M enschen liefen über den Hof. Nicht nur bewaffnete Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Ihr Anblick verriet, wie ernst die Situation inzwischen war. Auch Coligny hatte seine drei Kinder mitgenommen. Sie hatten sich nur kurz bei seinem Bruder in Tanlay aufgehalten und waren am nächsten Tag zusammen mit diesem weiter nach Noyers gereist, zum Schloss des Prinzen de Condé. Das Anwesen versprach für sie alle den größten Schutz, hatte ihr Nicolas erklärt, da Condé ein Prinz von königlichem Geblüt war und man es nicht wagen würde, ihn ohne Weiteres anzugreifen.
Beklommen blickte Madeleine jetzt zu den vielen Leuten. Jedes Gemach bis hin zur kleinsten Kammer wurde inzwischen als Schlafstätte genutzt, und stündlich trafen mehr Hugenotten mit ihren Familien hier ein. Hinter den Wirtschaftsgebäuden hatte man Zelte für die Knechte und anderen Dienstboten aufschlagen lassen.
Trotz der vielen Menschen herrschte eine verhaltene Stille in Noyers. Die Angst, die alle beherrschte, war deutlich zu spüren. Auch Madeleine fühlte eine nicht weichen wollende Furcht, seitdem sie Châtillon verlassen hatten. Trotz allem hatte sie sich dort sicher gefühlt. Wieder war sie auf der Flucht! Das einzig Gute an den jüngsten Ereignissen war, dass Olivier, der Stallknecht, nicht mit ihnen gereist war und ihr so nicht weiter zusetzen konnte, dachte sie. Seit mehr als zwei Wochen hatte Madeleine Lebrun keinen Bericht mehr geschrieben, und sie hoffte inständig, dass dies nun, da sie nicht mehr in Châtillon weilte und keine Möglichkeit mehr hatte, mit ihm Verbindung aufzunehmen, vorerst auch so bleiben würde.
»Mademoiselle?«
Sie blickte
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