Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Kardinals de Lorraine und seines Bruders, des Herzogs d’Aumale, ausmachen konnte. Sie versuchten in gefährlicher Weise, Einfluss auf Charles zu nehmen. Schon lange plädierten sie für einen erneuten Krieg gegen die Hugenotten. Unglücklicherweise musste selbst die Medici zugeben, dass man die Weigerung der Protestanten, ihre Waffen abzugeben, tatsächlich nicht hinnehmen konnte. Es wurde Zeit, dass sie die Dinge wieder unter ihre Kontrolle brachte, dachte sie.
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E in sanfter Wind strich ihr übers Gesicht – Madeleine schloss hinter den Ställen kurz die Augen und hob das Kinn, um die Sonne auf ihrer Haut zu spüren. Endlich war der Sommer gekommen. Auf den Feldern bogen sich die gelben Halme, an den Bäumen und Sträuchern zeigte sich ein leuchtendes Grün, und das laute Gezwitscher der Vögel erfüllte die Luft. Etwas Hoffnung Spendendes lag in dieser wiedererwachten Kraft der Natur. Mit einem tiefen Atemzug sog sie die frische Luft ein und öffnete blinzelnd ein wenig die Lider, als sie unerwartet neben sich einen Schatten wahrnahm. Eine Hand legte sich auf ihre Augen, und sie wurde gegen eine breite Brust gezogen.
Ihr Herz schlug schneller. Selbst blind hätte sie ihn überall erkannt. »Du bist schon zurück?«
Statt einer Antwort wirbelte er sie zu sich herum und küsste sie. Er war mehrere Tage weg gewesen, und sie schlang voller Sehnsucht die Arme um ihn und gab sich in der Sonne seinem Kuss hin. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich so glücklich, dass sie wünschte, sie hätte die Zeit für immer anhalten können.
Außer Atem lehnte sie den Kopf gegen die Stallwand, als sich seine Lippen von den ihren lösten. Sie sah ihn an und wollte fragen, wie es ihm ergangen war, doch etwas in seinem Blick, der ungewöhnlich ernst war, hielt sie davon ab. Wortlos strichen ihre Finger über seine Narbe, und eh sie sichs versah, küsste er sie auch schon erneut und zog sie, ohne sich von ihr zu lösen, mit sich zu einem der Schuppen.
Ein helles Lachen entschlüpfte ihrer Kehle, als sie sich dort in der Ungestümheit ihrer Umarmungen um die eigene Achse drehten, das Gleichgewicht verloren und taumelnd ins Heu fielen.
»Ich habe dich vermisst. Du ahnst nicht, wie sehr, verdammt noch mal«, murmelte er, während er die Schnüre ihres Mieders öffnete und sie weiter küsste. Etwas Wildes und Ungeduldiges haftete ihm an, als hätten sie sich nicht Tage, sondern Wochen nicht gesehen.
»Ist es nicht gotteslästerlich zu fluchen?«, fragte sie mit blitzenden Augen, während sich ihr Brustkorb schnell atmend auf und ab senkte.
Er grinste. »Das ist es ohne Frage!«, stimmte er ihr zu, während er ihr Kleid weiter öffnete und sein Wams zur Seite warf. Dann hörten sie auf zu sprechen.
Sie liebten sich mit einer Leidenschaft, die ihr stärker erschien als jemals zuvor. In immer neuen und stärkeren Wellen ergriff sie das Verlangen, bis Madeleine glaubte, die Lust nicht mehr aushalten zu können. Ein gewaltiger Rausch riss sie mit sich, bis schließlich alles um sie herum in einem Meer von Empfindungen zu versinken schien, in dem sie allein der Blick seiner Augen festhielt.
Später, als sie ermattet neben ihm lag, spürte sie, wie ihre Schuldgefühle sie erneut zu überwältigen drohten. Sie hätte ihm alles erzählen müssen, dachte sie wie schon so oft zuvor, aber je mehr sie für ihn empfand, desto weniger wagte sie auch nur, daran zu denken. Sie tat nichts wirklich Unrechtes, versuchte sie sich zu beruhigen. Nichts, was sie Lebrun schrieb, verriet irgendetwas, das die Hugenotten in Gefahr bringen konnte. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das nur die halbe Wahrheit war und dass sie ihn im Grunde hinterging.
Sie bemerkte, dass Nicolas sich neben ihr auf seinen Arm gestützt hatte und sie ansah. »Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was ich dich neulich Abend auf dem Wehrturm gefragt habe?«, erkundigte er sich vorsichtig, während seine Finger über ihre Hand strichen.
Sie schwieg einen Moment lang. »Du meinst, ob ich konvertieren könnte?«
Er nickte.
»Vielleicht«, sagte sie ausweichend. Sie beugte sich zu ihm. Ein übermütiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Glaubst du, dass du weniger sündigen würdest, wenn ich Protestantin wäre?«
»Du meinst, weil ich mich mit einer Katholikin so schamlos der Fleischeslust hingebe?«, erwiderte er spöttisch und zog sie erneut zu sich.
»Ja.«
Ein nachdenklicher Blick zeigte sich auf seinem Gesicht. »Nein«, sagte er ehrlich. Seine
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