Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
überraschter Ausdruck glitt über ihr Gesicht.
»Das machst du gut!«
»Meine Mutter hat für einen Apotheker gearbeitet. Ich habe ihr oft bei solchen Arbeiten geholfen«, erzählte Madeleine.
Die Nonne musterte sie. »Und das scheint dir ganz offensichtlich mehr zu liegen, als zu sticken«, erwiderte sie dann trocken. Sie wandte sich wieder ab und ging zu ihrem Schemel zurück. Madeleine bemerkte, dass sie humpelte.
»Habt Ihr Euren Fuß verletzt?« Die Frage war ihr schon heraus gerutscht, bevor ihr bewusst wurde, dass es ihr eigentlich nicht zustand, einer älteren Nonne Fragen zu stellen.
Schwester Philippa lächelte. »Nein, der liebe Herrgott lässt mich auf diese Weise nur wissen, dass ich nicht mehr die Jüngste bin! … Wenn du fertig bist, kannst du die Blätter waschen.«
Madeleine nickte. Sie mochte die alte Nonne, deren geröteten, faltigen Händen man ansah, dass sie ihr Leben lang hart gearbeitet hatte.
Von nun an verbrachte sie jeden Nachmittag einige Stunden bei ihr.
»Ohne dich ist es furchtbar«, sagte Louise, die sich jedoch freute, dass Madeleine die neue Arbeit zu gefallen schien und sie nicht mehr täglich davon träumte wegzugehen.
Madeleine half Schwester Philippa nicht nur beim Zubereiten und Trocknen der Pflanzen, sondern arbeitete auch im Kräutergarten, der umgeben von einer schützenden Mauer hinten im Kloster lag. Kamille, Thymian, Salbei wurden dort genauso angebaut wie Ringelblume, Frauenmantel oder Melisse. Selbst Blumen wie Rosen und Schwertlilien wurden als Heilpflanzen verwandt, wie Madeleine zu ihrer Verwunderung von Schwester Philippa erfuhr. Sie lernte auch, dass die Pflanzenteile unter schiedlich stark in ihrer Wirkung waren, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt man sie erntete. »Im Frühjahr und Sommer geht die meiste Kraft in die Blüten und Blätter, die Wurzeln dagegen gewinnen erst im Herbst an Kraft«, erklärte Schwester Philippa. Sie war erfreut über das Geschick und Interesse des Mädchens, und für Madeleine gehörten die Nachmittage schon bald zu ihren liebsten Stunden.
13
L ouise hatte Madeleine mit ernster Miene den Kopf zugewandt. »Meinst du, es wird bei uns auch wieder Krieg geben?« Sie waren mit den anderen Mädchen auf dem Weg zur Kapelle und noch immer in Gedanken damit beschäftigt, was Françoise beim Mittagessen berichtet hatte. Ihr Bruder, der Soldat, hatte ihr bei seinem letzten Besuch erzählt, dass der König die Grenze im Nordosten Frankreichs angeblich mit sechstausend angeheuerten Schweizern verstärken lassen wollte.
»Und warum tut er das?«, hatte Madeleine Françoise gefragt.
»Weil dort die spanischen Truppen auf ihrem Weg in die Niederlande vorbeikommen werden, sagt mein Bruder«, erwiderte Françoise, der es offensichtlich gefiel, dank dieser Neuigkeiten so im Mittelpunkt zu stehen.
Madeleine hatte sie erstaunt angeschaut. Fast ein Jahr war es her, dass man hier im Kloster von dem Aufstand in den spanischen Niederlanden gehört hatte. Inzwischen, so wurde jedoch behauptet, hätte sich die Situation dort längst wieder beruhigt. Umso überraschender waren diese Neuigkeiten.
Sie blickte Louise an. »Ich hoffe nicht, dass es wieder Krieg geben wird«, antwortete Madeleine schließlich.
Sie hielt ihre Haube fest, die ihr ein heftiger Windstoß vom Haar zu fegen drohte. Ein krachendes Geräusch, das vom Dach der Kapelle kam, lenkte sie von ihrem Gespräch mit Louise ab, und sie wandte den Kopf nach oben. Abrupt blieb sie stehen.
»Was hast du?«, fragte Louise.
»Nichts!«, erwiderte Madeleine tonlos. Auf dem Dach war nichts zu sehen. Hatte sie sich getäuscht? Doch sie spürte, wie ihre Sinne plötzlich mit geschärfter Aufmerksamkeit die Umgebung wahrnahmen, und dann hörte sie das Geräusch erneut – lauter und deutlicher als zuvor. Ein Zittern ergriff sie. Sie hatte das schon einmal erlebt. Nur zu gut erinnerte sie sich daran – auch wenn sie es all die Jahre verdrängt hatte. Wie aus einer anderen Wirklichkeit blitzten im selben Augenblick die Bruchstücke von Bildern vor ihr auf. Ein Ziegel, der vom Dach stürzte, Blut auf einem grauen Gewand … Unwillkürlich schloss sie die Augen. Nein, bitte nicht! Sie wollte das nicht noch einmal erleben. Du bildest dir das ein , hörte sie im Geiste die Stimme ihrer Mutter.
Am liebsten hätte sie nach Louises Arm gegriffen, doch sie un terließ es, um durch ihr Verhalten nicht noch weiter aufzufallen, und zwang sich weiterzugehen. Wieder tauchten der Ziegel, das Blut und die
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