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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Äbtissin schaute sie wieder an. Sie kannte die Nonne seit über zwanzig Jahren. Ihr Charakter hatte immer zu einem gewissen Fanatismus geneigt, aber seit dem Ausbruch des Religionskriegs war sie besessen von dem Gedanken, die Welt müsse von allem Ketzerischen gereinigt werden, damit Gott sich von den Seinen nicht abwandte. Unglücklicherweise hatte die Oberin, genau wie die Äbtissin, Madeleines Mutter – Elisabeth Kolb – gekannt. Obwohl sie nie etwas von ihrem Geheimnis erfahren hatte, war sie immer der Meinung gewesen, die Deutschehabe etwas Gottloses an sich, das sie nun auch bei ihrer Tochter zu entdecken glaubte. »Wie könnt Ihr so etwas nur von dem Mädchen denken – sie ist fast noch ein Kind!«, sagte Margarète de Foix leicht ungehalten.
    Ein trotziger Ausdruck glitt über das Gesicht der Nonne. »Ich stehe damit nicht allein. Pater Jacques teilt meine Meinung!«
    »Pater Jacques?« Die Äbtissin schaute die Oberin alarmiert an. »Wie kommt Ihr dazu, mit ihm darüber zu sprechen?« Aus ihrer Stimme war jede Freundlichkeit gewichen. »Was habt Ihr ihm gesagt?«
    Die Oberin wirkte plötzlich verunsichert. »Nur, dass mir etwas an Madeleine Kolb seltsam vorkommt. Ich hatte dem Mädchen nahegelegt, zu ihm zur Beichte zu gehen, um seine Seele zu entlasten«, fügte sie merklich vorsichtiger hinzu.
    Die Äbtissin schwieg. Die Angelegenheit begann sich weitaus schwieriger zu gestalten, als Margarète de Foix vermutet hatte. St. Angela war ihrer Autorität als Äbtissin unterstellt. Dennoch waren sie auch ein Tochterkloster von Clairvaux. Pater Jacques war ihnen vom dortigen Vaterabt als Beichtvater zugeteilt worden. Würde er, wie die Oberin, zu dem Schluss kommen, etwas mit dem Mädchen sei nicht in Ordnung, würde er das in Clairvaux mitteilen. Es konnte zu Nachforschungen kommen und spätestens bei dem nächsten Besuch des Abts oder seines Vertreters zu einem gefährlichen Thema werden.
    »Hat Madeleine dem Pater etwas gesagt, was Eure Vermutung bestätigt?«, fragte sie, denn sie wusste sehr wohl, dass es bei solchen Angelegenheiten ein Verfahren gab, das Beichtgeheimnis zu umgehen.
    »Nein, und genau das ist es ja«, stieß Schwester Henriette mit erneuter Heftigkeit hervor. »Pater Jacques empfand auch, dass sie von starken Schuldgefühlen geplagt wird, dennoch hat sie nicht sagen oder zugeben wollen, warum …«
    Die Äbtissin schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.
    »Es reicht jetzt!«, sagte sie scharf, ohne sich ihre Erleichterung über die Antwort anmerken zu lassen. »Das sind nichts als Vermutungen und ich verbiete Euch, solche Behauptungen jemals zu wiederholen.« Die klirrende Kälte in ihrem Tonfall verfehlte ihre Wirkung nicht – die Oberin zuckte zusammen. »Ihr wendet Euch gegen meine Autorität, wenn Ihr solche Angelegenheiten nicht als Erstes mit mir besprecht, denn es steht Euch nicht zu, selbst ein Urteil zu fällen. Habt Ihr das verstanden?«
    Schwester Henriette senkte den Blick. »Ja, hochwürdige Mutter!«
    Margarète de Foix blickte sie mitleidslos an und fuhr dann in aller Strenge fort: »Als Eure Äbtissin sage ich Euch, dass Ihr dazu neigt, Euer Herz im Urteil über andere zu verhärten. Damit vernachlässigt Ihr das Gebot der christlichen Nächstenliebe in sträflichster Weise, und das ist eine Sünde. Ihr solltet in Euch gehen und Gott um Vergebung dafür bitten! Und jetzt geht!«, sagte sie und entließ sie mit einem knappen Nicken.
    Nachdem die Nonne den Raum verlassen hatte, blieb die Äbtissin eine ganze Weile am Tisch sitzen. Obwohl sie sich sicher war, dass die Oberin es nicht wagen würde, ihre gefährliche Behauptung zu wiederholen, wollte die tiefe Sorge in ihrem Inneren nicht weichen. Sie musste an ihr letztes Gespräch mit Elisabeth Kolb denken. Es lag fast zwei Jahre zurück. Nach all der langen Zeit hatte sie auf einmal wieder vor ihr gestanden. Sie hatte sich sehr verändert und kaum noch etwas mit der Frau gemein gehabt, die vor fünfzehn Jahren völlig ausgehungert und erschöpft mit ihrer kleinen Tochter hier im Kloster bei ihnen Zuflucht gesucht hatte. Die Gedanken der Äbtissin wanderten weiter in die Vergangenheit zurück. Von Anfang an hatte sie damals gespürt, dass es besondere Gründe gewesen sein mussten, die Elisabeth Kolb bewogen hatten, ihre Heimat zu verlassen. Später, als sie die junge Frau besser kannte und diese sich ihr schließlich anvertraute, bestätigte sich ihre Vermutung. Sie war nicht freiwillig aus Deutschland weggegangen.

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