Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Umrisse einer verletzten Mädchengestalt vor ihr auf. Nein! Sie ignorierte es und versuchte, fest an ihre Mutter zu denken. Du bildest dir das ein, Madeleine. Begreifst du denn nicht, wie gefährlich es in diesen Zeiten ist, solche Dinge zu behaupten …?
Wie zur Bestätigung sah sie, dass die Oberin, die vor der Kapelle stand, sie anstarrte. Sie ging entschlossen weiter, doch plötzlich verschwamm die Umgebung vor ihren Augen. Nein! Diesmal würde sie es nicht zulassen. Sie würde stark sein. Mit aller Macht wehrte sie sich gegen die Bilder, die sie mit einer Heftigkeit überfielen, als würde ein Wirbelsturm durch ihr Inneres toben und sie mit sich reißen. Ihr Puls raste – und dann war mit einem Schlag alles vorbei. Die Wirklichkeit nahm wieder feste Konturen, an und die Bilder waren verschwunden. Sie atmete erleichtert auf.
»Was ist denn mit dir passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, sagte Louise beunruhigt.
Madeleine zwang sich zu einem Lächeln. Sie bemerkte, dass die Oberin sie noch immer anstarrte. »Nichts, mir war nur etwas schwindlig!«, erklärte sie, während sie weitergingen. Der Wind toste über den Hof.
Im selben Augenblick war über ihnen ein polterndes Geräusch zu hören. Die beiden Mädchen fuhren zusammen. Der Schatten von etwas Bräunlich-Rotem schoss vom Dach, und Madeleine sah gerade noch, wie er Françoise, die vor ihnen lief, am Ohr traf und dann mit voller Wucht auf deren Schulter aufprallte.
Françoise schrie gellend auf und griff sich mit der Hand an die klaffende Wunde ihres Kopfs, aus der das Blut schoss, dann sank sie auch schon zu Boden.
Entsetzt blickte Madeleine auf ihre verletzte Gestalt, zu der alle hinrannten.
Was hatte sie getan? Warum hatte sie sie nicht gewarnt? Sie fühlte, wie ihr schwarz vor Augen wurde.
14
M argarète de Foix war seit fast zwanzig Jahren Äbtissin des Klosters von St. Angela. In dieser Zeit hatte sie viele Entscheidungen treffen müssen und gelernt, dass die wenigsten Wege, die Gott einen im Leben beschreiten ließ, einfach und gradlinig, sondern ganz im Gegenteil mit Widrigkeiten gepflastert waren und sich dabei gut und böse allzu oft in dem Gewand des anderen versteckten.
Sie versuchte ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben, als sie Schwester Henriette, die Oberin, ansah. »Sie soll was sein?«, fragte sie – nicht bereit zu glauben, was sie gerade gehört hatte.
»Sie ist vom Teufel besessen! Von Anfang an habe ich das gewusst«, brach es heftig aus der Oberin hervor.
Einen Moment blickte die Äbtissin sie an und betrachtete ihr Gesicht mit den blassen, für eine Frau ein wenig zu kräftig geratenen Zügen, das mit Schönheit zu beschenken dem Schöpfer eindeutig nicht gefallen hatte. »Wie könnt Ihr nur so etwas behaupten, Schwester Henriette?«, fragte sie dann kühl.
»Es ist die Wahrheit«, beharrte die Oberin. »Das Mädchen wollte , dassFrançoise von dem Ziegelstein getroffen wird. Ich habe sie beobachtet, hochwürdige Mutter!« Zwei hellrote Flecken zeigten sich auf den Wangen der Nonne. »Ich habe gesehen, wie sie zum Dach hochgeblickt hat und dann auf seltsame Weise erstarrte. Sie hat sogar die Augen geschlossen, als würde sie sich konzentrieren, um den Leibhaftigen persönlich zu beschwören«, fügte sie mit finsterer Miene hinzu. »Und nachdem es passiert war, hat sie plötzlich das Bewusstsein verloren. Als würde ihr Körper nicht stark genug sein, um den Teufel länger in sich zu tragen.«
»Was redet Ihr da für einen Unsinn!«, wies die Äbtissin sie resolut zurecht. »Die Mädchen sind in einem Alter, in dem es nicht ungewöhnlich ist, dass sie in Ohnmacht fallen. Wahrscheinlich ist ihr einfach schlecht geworden, und sie ist nur deshalb stehen geblieben und hat die Augen geschlossen.«
Die Oberin schüttelte grimmig den Kopf. »Nein, hochwürdige Mutter!« Sie neigte sich ein Stück nach vorn. »Glaubt mir, so wahr ich hier vor Euch sitze. Ich habe in ihren Augen das Entsetzen über ihre eigene Tat gesehen. Und seitdem es passiert ist, wird sie von Schuldgefühlen geplagt. Sie war mehrmals bei Françoise, obwohl die beiden sich nie verstanden haben, um zu sehen, wie es ihr geht.«
»Das besagt nichts«, entgegnete Margarète de Foix ruhig. »Im Gegenteil, wenn die Tat in ihrer Absicht gelegen hätte, würde sie wohl kaum dieses Mitgefühl an den Tag legen.«
»Oder es sind die wenigen Momente, in denen ihre Seele nicht vom Teufel besessen ist!«, widersprach die Oberin stur.
Die
Weitere Kostenlose Bücher