Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
bereitete ihr Freude. Es handelte sich um einen rein strategischen Besuch. Es galt, dem Ehrgefühl dieses Adelshauses zu schmeicheln und seinen Mitgliedern das Gefühl zu geben, der junge König würde sie und ihre Meinung für wichtig erachten. Ihre Mundwinkel verzogen sich abfällig. In all ihrer Unberechenbarkeit war die Eitelkeit der Guise glücklicherweise immer eine verlässliche Größe gewesen, und man musste dieses Spiel daher spielen. Die Vergangenheit hatte sie gelehrt, nicht den Fehler zu begehen und die Guise zu unterschätzen. Die Bedrohung, die von ihnen ausging, war ohne Frage weit gefährlicher als die sämtlicher Hugenotten zusammen.
5
S chon von Weitem sah Madeleine, dass ihre Mutter in der Tür stand. Ihr Gesicht, das von einer weißen Haube umrahmt wurde, unter der man den Ansatz ihres dunkelblonden Haars erkennen konnte, war angespannt. »Da bist du ja endlich!«, stieß sie beim Anblick ihrer Tochter erleichtert hervor. »Wo warst du nur so lange? Man hat erzählt, die Brücke unten am Fluss sei eingestürzt … Ich habe mir schon Sorgen gemacht!«
»Mir geht es gut, aber ich habe das Unglück gesehen!«
Ihre Mutter zog sie in die Arme, und Madeleine spürte, wie sie ein wohltuendes Gefühl der Geborgenheit durchströmte. »Gott sei Dank ist dir nichts passiert!«, sagte Elisabeth Kolb.
Sie nahm ihrer Tochter den Korb ab, und Madeleine folgte ihr benommen in die Küche, einem länglichen Raum mit Steinboden, einer Herdstelle, zwei langen Holztischen und einigen Schemeln. An der Wand und den Regalen waren nicht nur die üblichen Utensilien zum Kochen untergebracht, sondern auch zahlreiche Phiolen, Amphoren, Tontöpfe und Mörser zu sehen – Gerätschaften, die man zum Trocknen und Zubereiten von Kräutern und Medikamenten brauchte. Die Küche gehörte zum Haus des Gewürzhändlers und Apothekers Legrand, dem ihre Mutter Elisabeth den Haushalt führte und bei Arbeiten für seine Apotheke half. Der Lohn, den sie verdiente, war karg, aber er reichte, dass sie stets genug zu essen und ein Dach über dem Kopf hatten. Das war mehr, als die meisten hatten, wie ihre Mutter oft zu sagen pflegte.
Madeleine sah, dass sie gerade dabei gewesen war, einen Berg frischer Kräuter von Wurzeln und Blättern zu säubern und sie zu Bündeln zusammenzubinden. Später würden sie zum Trocknen aufgehängt werden.
Ihre Mutter wandte sich zur Feuerstelle und füllte ihr aus einem Topf einen Teller mit Rübensuppe, die noch dampfte.
Sie drückte ihr einen Löffel in die Hand. »Hier iss, das wird dir guttun!«, sagte sie.
Doch Madeleine verspürte keinen Hunger. Die Ereignisse waren ihr auf den Magen geschlagen. Noch immer fühlte sie eine tiefe Angst, wenn sie daran dachte, was vorhin mit ihr geschehen war.
»Wenn du fertig bist, kannst du mir helfen!«, sagte ihre Mutter, die ein Husten unterdrückte. Madeleine nickte. Ihr fiel auf, dass sie schlecht aussah – ihr gebeugter Rücken, die tiefen Linien und Falten in ihrem Gesicht. Sie wirkte müde.
»Maman, ich muss dir etwas erzählen …«, sagte sie plötzlich zögernd. Ihre schmalen Finger spielten fahrig mit dem Löffel. Sie musste mit irgendjemandem darüber sprechen, was geschehen war. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber die Brücke, die eingestürzt ist …«
Ihre Mutter hatte den Kopf zu ihr gewandt, und Madeleine suchte einen Moment lang nach den richtigen Worten, bevor sie fortfuhr: »Ich habe es gesehen, ich meine, vorhergesehen – bevor es geschehen ist !«
Ihre Mutter drehte sich mit einer abrupten Bewegung ganz zu ihr herum. »Unsinn!«, sagte sie scharf.
»Doch! Es ist wahr. Ich habe es wirklich vorhergesehen«, sagte Madeleine aufgelöst. »Es war schrecklich! Ich habe die Schreie gehört und die Menschen und Reiter gesehen, wie sie in den Fluss gestürzt sind …« Etwas in dem Blick ihrer Mutter brachte sie zum Verstummen. Das Gesicht von Elisabeth Kolb war zu einer undurchdringlichen Maske geworden.
»Wie kannst du so etwas behaupten? Das hast du dir nur eingebildet!«
»Nein, das habe ich nicht«, widersprach Madeleine verzweifelt. »Ich habe es wirklich gesehen.« Ihre Stimme war unwillkürlich lauter geworden. Sie fühlte sich ungerecht behandelt. Dass ihre Mutter ihr nicht glaubte, traf sie. Ihre blaugrauen Augen nahmen unwillkürlich einen dunkleren Ton an, wie immer, wenn sie aufgebracht war.
»Schluss jetzt damit!« Elisabeth Kolb griff ihre Tochter hart am Arm. »Ich verbiete dir, jemals wieder solchen Unsinn zu
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