Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
behaupten, hast du mich verstanden?« Ihr Mund war zu einem schmalen Strich geworden.
Ihre heftige Reaktion verwirrte Madeleine. Glaubte sie wirklich, dass sie sich alles nur einbildete?
»Mein Gott, Magdalena !«, sagte ihre Mutter, sie plötzlich bei der deutschen Form ihres Namens nennend. »Begreifst du denn nicht, wie gefährlich es in diesen Zeiten ist, solche Dinge zu behaupten? Man landet für viel weniger auf dem Scheiterhaufen«, fuhr sie ihre Tochter an. Ihr strenger Tonfall ließ den deutschen Akzent, den sie nie ganz abgelegt hatte, plötzlich deutlich hörbar werden. Ihre Familie stammte ursprünglich aus der Pfalz. Madeleine und ihre Mutter waren erst nach dem Tod des Vaters nach Frankreich gekommen.
Das junge Mädchen senkte unter ihrem eindringlichen Blick betreten den Kopf, denn es begriff durchaus, was sie meinte. Die ständigen Unruhen, der Krieg gegen die Hugenotten – eine auf gepeitschte, hoch erregte Stimmung herrschte im Land. Es stimm te, es war nur allzu leicht, der Ketzerei oder auch der Hexerei verdächtigt zu werden. Deshalb hatte sie selbst es ja auch noch nicht einmal gewagt, Agnès die Wahrheit zu sagen. Und sie waren noch dazu Ausländer, Menschen, die schneller als alle anderen verdächtigt wurden, etwas getan zu haben, wie ihre Mutter ihr immer eingeschärft hatte.
Elisabeth Kolb schwieg. »Verstehst du, was ich meine, Madeleine?«, fragte sie dann.
Sie nickte. »Ja«, sagte sie leise. Sie musste an die Königinmutter denken und wie begierig sie darauf aus gewesen war zu erfah ren, was sie gesehen hatte. Was wäre geschehen, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte? Intuitiv hatte sie sich dagegen entschieden. Eingeschüchtert fuhr Madeleine mit dem Finger die Maserung der Tischplatte nach. Sie hätte ihrer Mutter gerne von der Begegnung mit der Königinmutter erzählt, aber das wagte sie plötzlich nicht mehr.
»Was hast du denn da?«, entfuhr es Elisabeth Kolb in die sem Moment. Ihr Blick war voller Schreck auf die Hand ihrer Tochter gefallen, auf der man noch immer die Striemen sehen konnte.
Madeleine bedeckte sie eilig mit der anderen Hand. »Nichts, ein Offizier hat versucht, mich aus dem Weg zu treiben!«
Ihre Mutter sah sie ungläubig an. »Ich werde dir nachher etwas Salbe geben.« Sie fuhr in ihrer Arbeit fort, doch dann wandte sie sich erneut zu ihrer Tochter. »Siehst du, manchmal glaubt man etwas zu sehen, und dabei täuschen einen nur die eigenen Sinne«, sagte Elisabeth Kolb abschließend, bemüht, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, während sie mit dem Messer weiter die Kräuter bearbeitete. Ihre Knöchel traten weiß unter der Haut hervor, so fest umspannte sie den Griff. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht gewillt war, weiter über das Thema zu reden.
»Steh auf. Du kannst dich schon mal etwas nützlich machen.« Sie deutete auf zwei Eimer. »Hol frisches Wasser vom Brunnen.«
Madeleine erhob sich gehorsam. Auf dem Weg nach draußen zum Brunnen ergriff sie eine bedrückende Furcht. Sie hatte sich diese Dinge nicht eingebildet, dachte sie. Was stimmte nur nicht mit ihr? Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt.
6
I m Frühsommer erreichten die Champagne unheilvolle Nachrichten aus dem Süden. In Lyon sei die Pest ausgebrochen, so hieß es. Gerade als der König mit dem Hof dort angereist sei.
»Ich sage Ihnen, diese ungläubigen Protestanten haben absichtlich verseuchte Lebensmittel über die Grenze von Genf gebracht, um den König und den Hof zu infizieren! Wahrscheinlich hat Calvin persönlich das in Auftrag gegeben«, stieß Monsieur Gastine hervor, der in der Apotheke von Monsieur Legrand stand. In seinen Augen loderte die Empörung. Der Arzt, der auf ein Medikament wartete, das der Apotheker für ihn fertig mischte, war überzeugter Katholik.
Madeleine, die von ihrer Mutter die Aufgabe bekommen hatte, im Hinterraum die Regale sauber zu wischen, lauschte aufmerksam dem Gespräch. Bereits vor einigen Tagen war ein reisender Händler hier gewesen, der erzählt hatte, dass man trotz des Friedensabkommens in vielen Teilen des Landes weiter versuchte, die Hugenotten zu bekämpfen. Überall wurden geheime katholische Vereinigungen gegründet – sogenannte Ligen –, die es sich zum Ziel gesetzt hätten, den katholischen Glauben mit allen Mitteln zu verteidigen.
Der alte Legrand blickte den Arzt beunruhigt an. »Bei dem Allmächtigen, die Pest? Das ist ja schrecklich! Ist denn jemand von der königlichen Familie
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