Das Mädchen mit den Teufelsaugen
beim Aufgang der Sonne gefeiert wurden, in der Regel um die sechste Stunde herum. Mit Inbrunst betete Rosamund für das gute Gelingen und die Heiligung des neuen Tages, aß danach mit gutem Appetit eine Hafergrütze zum Frühstück, trank eine heiße Milch dazu und begab sich zum ersten Mal an diesem Tag ins Skriptorium. Wenn die Glocke die neunte Stunde verkündete, fand sie sich wieder in der Kapelle ein, um die Prim zu feiern, zu Mittag folgte die Terz, danach das Mittagessen und die stille Stunde, die Prim und die Non. Dazwischen eilte Rosamund immer wieder in die Schreibstube zurück, um ihrer Arbeit nachzugehen. Zur Vesper verschloss sie das Tintenfass, legte ihre Arbeitsgeräte ordentlich auf das Pult und eilte zum Vespergottesdienst in die Kapelle. Der Tag wurde von der Komplet beendet, der eine Gewissenserforschung mit stillem Schuldbekenntnis vorausging. Jedoch gab es hier in Mariahilf nichts, was Rosamund belastet hätte. Im Gegenteil. Sie genoss die Regelmäßigkeit der Tage.
Es gab keine Überraschungen, das Leben lief ruhig und gleichmäßig wie der Main im Sommer. Rosamund musste nichts fürchten, hatte keine Sorgen und, vor allem, war sie ohne Schuld. Hier gab es niemanden, dem sie das Leben verdarb. Sie fühlte sich wohlgelitten, und das war mehr, als sie je gehabt hatte. Selbst ihr leiser Zorn auf Gott, der zugelassen hatte, dass sie Teufelsaugen bekam, verzog sich langsam. Rosamund war schon immer fromm gewesen, hatte schon immer ein guter Mensch sein wollen und Gott allabendlich um Kraft dafür gebeten. Als sie nochunter den Menschen war, schien es, als ob Gott sie nicht gehört hatte. Da war das Urselchen, dem sie im Weg war. Und der Mutter war sie auch nicht gut genug gewesen. Sie hatte so vielen Menschen Angst gemacht. Wie kann man gut sein, wenn die anderen sich vor einem fürchten? Da nützte alles Wollen nichts.
Hier war es anders. Rosamund hatte seit zwei Wochen kein schlechtes Wort gehört, keinen scheelen Blick geerntet, kein Getuschel hinter ihrem Rücken bemerkt.
Und das, obwohl mit ihrer Ankunft im Kloster die Kälte begonnen hatte. Schnee war gefallen, lag jetzt schon über einen Meter hoch, und es war so kalt, dass die wenigen Kohlebecken nicht ausreichten, um das Kloster nur um einen Hauch zu erwärmen. Über Nacht gefror das Wasser in den Kannen, und seit zwei Tagen war es auch über Tag nicht getaut.
Der Priester, vor dem sie das Gelübde ablegen sollte, lag im Nachbarkloster krank danieder, sein Vertreter wagte sich nicht durch Schnee und Eis in das verlassene Tal. Also blieb Rosamund die, die sie war: eine überreife Jungfer, die niemand wollte und den einzigen Bewerber um ihre Hand in Gott sah.
Seit ihrer Ankunft hatte sie nicht mehr gebeichtet; auch den Benediktinerinnen von Mariahilf blieb die Vergebung ihrer kleinen Sünden versagt. So zeigten sich allmählich und beinahe unbemerkt kleine Risse im streng geregelten Klosteralltag. Zur Vigil, dem Nachtgebet, erschien nur noch die Hälfte der Schwestern, im Refektorium wurde während der Verlesung der Psalmen beim Mittagsmahlgehustet, erhitzter Wein auch außerhalb der Mahlzeiten getrunken, und nachts lagen in so mancher Zelle zwei Schwestern eng aneinandergekuschelt in einem Bett.
Rosamund warf einen letzten Blick auf Schwester Agnes, öffnete die Tür ihrer Kammer, ging durch den langen Flur Richtung Skriptorium. Die Tür zur Küche stand offen, der Gärtner brachte gerade einen Sack zur Küchenschwester, der so zappelte, dass er ihn kaum transportieren konnte.
«Was bringst du mir da?», fragte die dicke Köchin.
«Drei Feldhasen, erstaunlich fett für die Jahreszeit. Das muss ein Zeichen des Herrn sein.»
«Gelobt sei Jesus Christus», erwiderte die Schwester, bekreuzigte sich.
«In Ewigkeit, Amen», sagte der Gärtner, griff in den Sack und hielt der Nonne den ersten Hasen hin.
Die krempelte sich die Ärmel ihrer Kutte hoch. «Gleich schlachten werde ich den, ich brauche noch eine Einlage für die Suppe.» Sie griff nach dem Tier, setzte das zappelnde Wesen auf den Boden und sprach auf es ein, damit es ruhig wurde. Rosamund hatte noch nie gesehen, wie ein Hase geschlachtet wurde. Sie blieb stehen, war gespannt, ob sein Blut tatsächlich so rot war wie in ihrer Vorstellung. Jetzt hob die Köchin das Tier langsam an den Hinterbeinen in die Höhe und sprach dabei weiter auf es ein. Ihre rechte Hand fuhr hoch in die Luft und sauste beinahe im selben Atemzug unterhalb der Löffel in das Hasengenick. Rosamund hörte
Weitere Kostenlose Bücher