Das Mädchen mit den Teufelsaugen
Herzblatt?» Die Mutter streichelte Ursula über die blonden Locken.
Rosamund wandte sich der Kopflinie zu, die an der Daumenseite begann und sich eigentlich über die ganze Handfläche ziehen sollte. Bei Ursula war das anders. Die Kopflinie bildete gemeinsam mit der Lebenslinie ein Wirrwarr aus Zeichen. Rosamund wusste genau, was das bedeutet. Aber wie sollte sie es sagen?
«Deine Kopflinie, sie ist sehr kräftig, weißt du, und am Anfang ein bisschen verstrickt.»
«Und was heißt das?»
«Nun, das heißt, dass du nicht besonders gern zu den Weißfrauen in die Schule gehst.»
«Das stimmt, das ist wahr!», rief das Urselchen begeistert.«Gehasst habe ich die Nonnen mit ihren blöden Regeln und ihren Ermahnungen. Und weiter?»
Rosamund seufzte. Für das Kuddelmuddel zwischen Kopf- und Lebenslinie, so, wie es in Ursulas Hand stand, gab es nur eine mögliche Erklärung: Frühes Elend, langsame Entwicklung, die rasch zum Stillstand kam. Aber wie sollte sie das sagen? Niemals lügen, hatte Tonia ihr eingeschärft. Sie hatte die Worte ihrer Amme nie vergessen. Niemals lügen.
«Du musst auf dich aufpassen», sagte Rosamund so sanft sie konnte. «Dein Temperament macht dich anfällig für vielerlei Sachen. Es ist gut, dass du jemanden heiraten wirst, der dir zur Seite steht.»
Ursula zog die Stirne kraus. «Heißt das, ich werde Unglück erleben, Leid haben?»
Rosamund schüttelte den Kopf. «Nein, das heißt es nicht. Eine Hand verändert sich. Du bist noch jung. Im Augenblick steht da, dass du aufpassen musst. Bist du aber gottesfürchtig und aufrecht, so kann dir nichts passieren. Der Teufel lauert, aber du hast die Kraft, seinen Lockungen zu widerstehen. Kein Neid, keine Habsucht, kein Hochmut, dann steht deinem Glück nichts im Weg.» Sie sagte es und spürte doch, wie ihr weh wurde ums Herz. Sie wusste, dass das Urselchen einen Hühnerdreck auf ihre Warnung gab.
«Und weiter? Was liest du noch aus meiner Hand?»
Rosamund wollte nicht mehr. Sie wollte nicht in der Hand ihrer Schwester lesen, was sie ohnehin ahnte. Das Urselchen würde kein glücklicher Mensch werden. Siewürde es nicht schaffen. Ihre Wünsche waren zu groß, ihre Ansprüche zu hoch. Ursula, die Verwöhnte, hatte nie gelernt, dass Wünschen nicht glücklich macht, dafür aber Bescheidenheit. Und Rosamund konnte es nicht ändern.
«Deine Herzlinie», sprach sie weiter, konnte kaum die Worte im Munde formen. «Deine Herzlinie ist schnurgerade. Das heißt, dass du die richtige Person in Liebesdingen auswählst. Du bist wählerisch, nimmst nicht den Erstbesten, sondern den Passendsten.»
Das Urselchen nickte und wandte sich an ihre Mutter: «Siehst du, ich habe mit Michael das große Los getroffen.»
Lisbeth lächelte schief.
«Ob Michael der Richtige ist, steht hier nicht. Es gibt jedoch einen Hinweis darauf, dass er es sein könnte, denn eine Linie trifft von der Daumenseite her auf deine Schicksalslinie, und das heißt, dass dein Geliebter aus der gleichen Gegend und aus ähnlichen Verhältnissen kommt. Und dass ihr euch schon lange kennt.»
Ursula verzog den Mund. «Gesehen habe ich den Michael schon, als wir noch Kinder waren. Zählt das auch? Gesprochen aber erst vor einigen Monaten.»
Rosamund zuckte mit den Achseln. «So genau steht das in deiner Hand nun auch wieder nicht. Im Übrigen bist du noch jung. Dein Schicksal ist noch nicht besonders festgeschrieben. Das gilt für die guten wie für die schlechten Dinge. Letztendlich entscheiden nicht die Linien in deiner Hand über dein Glück, sondern du selbst.»
Rosamund war auf einmal sehr müde und erschöpft.Sie hatte in Ursulas Hand so viel über das gelesen, was sie sich selbst wünschte – wie in so vielen anderen Händen. Nur die eigene Hand hatte sie noch nie betrachtet. Es war, als fürchtete sie sich davor.
Sie verließ die Küche, ging langsam über den Hof zur Werkstatt, presste dabei beide Hände zusammen.
Soll ich?, dachte sie. Will ich wirklich wissen, was das Leben mir bringen wird? Was, wenn es nicht so ist, wie ich es mir wünsche? Sie schluckte, erinnerte sich an das, was sie gerade zu Ursula gesagt hatte. Du kannst dein Leben noch ändern. Auch sie war noch jung, ihr Schicksal noch nicht festgeschrieben. Ganz tief holte Rosamund Atem, betrachtete ihre linke Hand. Nur ganz kurz, nur einen Blick, schwor sie sich. Und dann tat sie es. Als Erstes sah sie die schmale Linie, die von der Mondseite her kam und auf die Schicksalslinie traf. Ein Fremder, erkannte sie.
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