Das Mädchen: Roman (German Edition)
Tochter an.
Sie meint diesen Blick zu kennen, doch sie ist sich nicht sicher. Sie weiß nie, was er als Nächstes tun wird. Es gibt keine erkennbaren Gesetze für ihr Zusammenleben, keine gültige Gerechtigkeit; ein Vorfall, der ihr morgens eine Tracht Prügel einbringt, kann abends nur ein müdes Lächeln bei ihm hervorrufen. Er benutzt seine Hände beim Schlagen, anders als ihre Mutter, die den Gürtel bevorzugt, und das kommt ihr irgendwie gerechter vor.
Er atmet aus und hält eine rote Glaskugel ans Licht. Schöne Farbe, sagt er, erinnert mich an was.
Und er kann malen, wie ein wirklicher Künstler, die Frauen auf seinen Bildern haben halb geschlossene Augen und spitze Brüste, doch am liebsten mag sie sein Ölgemälde, das über dem Sofa hängt, es zeigt einen gewaltigen Dreimaster, der gegen den Sturm kämpft, und im Hintergrund Blitze.
Ein Falter umkreist den Lampenschirm, flattert die Decke entlang. Ihr Vater starrt schon wieder auf die Uhr, dann zeigt er auf den Falter. Was macht der denn hier? Es ist doch Winter. Er schüttelt verständnislos den Kopf, kratzt sich unter den Achseln. Sie hat ihren Vater noch nie nackt gesehen. Als er einmal unbekleidet in der Küche stand und in den Ausguss pinkelte, hatte sie sich nicht getraut hinzugucken.
Es ist drei, sagt er, noch viel zu früh.
Der Falter lässt sich kurz auf seiner Hand nieder, dann fliegt er weiter.
Tagsüber hat es geregnet, und die Straßen sind spiegelglatt. Die Geschwister schlittern die abfallenden Wege im Park entlang. Ein eisiger Windhauch geht durch die kahlen Äste der Bäume, Kälte brennt auf ihren Wangen. Es ist Heiligabend.
Meinst du, ich bekomme den Trecker?, fragt Alex.
Er ist so aufgeregt, dass er vergisst, Grimassen zu schneiden, sein Gesicht ist ruhig, seine Augen leuchten.
Bestimmt, sie nickt und tritt in das splitternde Eis einer Pfütze. Sie denkt darüber nach, ob sie zu gierig gewesen ist, zu viele Wünsche aufgeschrieben hat und ob sich das ungünstig auf die Erfüllung auswirken könnte. Doch liegt es überhaupt in ihrer Macht, ob ihre Wünsche erfüllt werden? Sie beantwortet die Frage mit einem eindeutigen Nein und fühlt sich erleichtert. Ihr Bruder scheint noch an ein Ja zu glauben, es muss einen Ort in ihm geben, wo Unschuld und Hoffnung sich aufhalten, er glaubt an Dinge – obwohl er doch oft enttäuscht wurde –, die ihr längst unmöglich vorkommen; er glaubt, dass alles normal wird, eines Tages, und allein diesen Gedanken findet sie so unwirklich, als würde sie die Augen schließen und glauben, blind zu sein.
Um acht Uhr abends steigen sie verfroren die Treppen hoch und klopfen an die Tür. Ihr Vater öffnet ihnen im Bademantel, und sie schlüpfen schnell an ihm vorbei ins Kinderzimmer. Sie haben ein kleines Weihnachtsprogramm vorbereitet. Sie hat Alex einen Umhang aus Krepppapier gebastelt, der ihn wie ein zart zerknittertes Zelt umhüllt, und auch eine Kappe, die etwas zu klein geraten ist. Sie malt ihm mit dem Augenbrauenstift ihrer Mutter einen Schnurrbart ins Gesicht, er soll aussehen wie ein Husar; der Vater hat ihnen erzählt, er selbst stamme von einem ungarischen Husaren ab.
Als sie ins Wohnzimmer gerufen werden, starrt Alex auf den leuchtenden, bunt geschmückten Baum und vergisst sich zu drehen, wie sie es vorher geprobt haben. Sie stupst ihren Bruder an, und er breitet entrückt, wie ein Schlafwandler, die Arme aus. Eine Weile lang bleibt es still. Dann ist nur das knisternde Geräusch zu hören, als Alex sich schließlich doch noch zu drehen beginnt und dabei der Umhang aus Krepppapier durch die Luft fliegt. Statt laut zu singen, flüstert er, die Kappe ist ihm längst heruntergefallen, sie räuspert sich, ohne Erfolg, ihr Bruder bewegt sich auf die Stelle unter dem Weihnachtsbaum zu, wo die Geschenke liegen, und setzt sich einfach auf den Boden. Sie hört ihre Eltern lachen und zuckt verlegen die Achseln, das Lachen ihrer Mutter geht in ein Gekicher über. Du bist ja total irre, hört sie ihren Vater laut lachend sagen, und sie begreift, dass sie nicht über sie oder ihren Bruder lachen, sie lachen über sich selbst. Sie überreicht der Mutter die gehäkelten Topflappen, ihrem Vater schenkt sie eine Zeichnung, auf der in bunten Farben ein jonglierender Clown zu sehen ist.
Danke, sagt die Mutter, und nun schau dir deine Geschenke an.
Sie packt eine rosa gekleidete Babypuppe aus und spürt den erwartungsvollen Blick der Mutter. Doch sie mag keine glatzköpfigen Babypuppen, man kann ihnen
Weitere Kostenlose Bücher