Das Mädchen und das schwarze Einhorn
Magen wie fünf kalte Worte: Diese Knochen bedeuten mir nichts. Und dann zwölf weitere: Nichts ist passiert. Nichts hat sich geändert. Ich werde nie frei sein.
Die silbernen Löffel ruhten auf leergegessenen Eisschälchen; Jaive erhob ihre Stimme. »Und nun werde ich ein Opfer darbringen.«
Die Pensionäre, Mädchen und Soldaten verfielen in respektvolles Schweigen, und das Aufwartepersonal nahm Haltung an, während es sich auf seine diversen Krücken stützte.
Obwohl sie nicht religiös war, vollführte die Zauberin bei ihren Abendeinladungen immer irgendeinen Akt der Verehrung.
Sie verließ den Tisch und begab sich zu dem dunkel gewordenen Fenster. Sie goß einen Schwall Wein auf die Erde und warf irgendein Pulver hinterher. Der Wein und das Pulver vermengten sich, zischten und blühten wie eine karmesinrote Rose empor. »Wir danken Euch für Eure Gaben und bitten Euch, dieses Fest mit uns zu teilen. Ihr wohlwollenden Mächte. Laßt uns in unseren Leben jederzeit demütig die perfekte Welt erinnern, welche nicht die unsere ist.«
Mit einem süßen Duft verpuffte die Rose. Blendende Rauchfetzen verflüchtigten sich an die Decke.
Die Türen ächzten.
»Wir begrüßen das Fleisch.«
»Das Fleisch.«
Herein marschierten zwei der Küchenjungen in sauberen weißen Anzügen, die Flöten und möglicherweise eine Melodie spielten. Hinter ihnen zogen Kissen und Wurst in den Saal, die goldene Streifen ausstreuten. Hinter den Küchenmädchen stolzierte die Köchin einher, beeindruckend in ihrer Schürze aus Goldtuch; sie trug in der einen Hand einen goldenen Kochlöffel, in der anderen eine Fliegenklatsche aus Elfenbein.
Der Köchin folgten drei Ziegen mit schwarzem und rehbraunem Fell, gebadet und gestriegelt und von einem dritten, ebenfalls weißgekleideten Küchenjungen geführt; sie zogen einen kleinen Triumphwagen mit dem Bratentablett darauf.
Tanaquil unterdrückte einen Seufzer.
Die einzelnen Bratenstücke waren in Form einer turmbewehrten Festung arrangiert worden, mit Zinnen aus gebackenem Brot, Dächern aus knuspriger Schweinebratenkruste und Fenstern aus glasierten roten und gelben Gemüsen, das Ganze eingebettet in Dünen aus Hackfleisch.
Ein donnernder Applaus setzte ein.
Ich könnte das Skelett genausogut wieder abhängen, dachte Tanaquil bei sich. Könnte all diese glänzenden Knochen, diesen Regenbogenschädel, in Kisten verstauen. Ein Einhorn. Ich sollte es IHR geben.
Fleischscheiben wurden von einem dreiundachtzigjährigen Diener vorgelegt. Ein anderer im Alter von sechsundachtzig Jahren trat mit einer goldenen Saucenschale hinter sie. Tanaquil dankte ihnen. Auch ich werde hier versauern, bis ich achtzig bin. Oder neunzig , dachte sie.
Von irgendwoher, hoch oben in ihrem Schädel oder noch höher, aus Jaives Festung, erklang ein gewaltiger Krach. Wie eine Tür, die aus ihren Angeln gerissen wird.
Einige Gesichter sahen von Gabeln voller Bratfleisch auf. Pflaume sagte: »Da haben wir wieder einen von den Sprüchen der Herrin.«
Kühn scherzte der Hauptmann mit Jaive: »Besser als das Geschütz, Madam.« Und Jaive lächelte.
Mehr Aufmerksamkeit erfuhr der Krach nicht.
Tanaquil dachte: Vielleicht hat sich ein Feind angeschlichen und nimmt uns nun unter Beschuß. Vergebliche Hoffnungen.
Aber immer noch spürte sie etwas in ihrem Kopf, etwas Prickelndes, Verwirrendes. Es war wie ein weißer, strahlender Gedanke, der durch die Windungen ihres Verstandes galoppierte, ihren Nacken mit schliddernden, funkensprühenden Hufen berührte, landete und vorwärtspreschte wie Messer auf einem Schild.
»Trink deinen Wein aus, Tanaquil«, ermahnte sie ihre Mutter. »Das hilft gegen deine Kopfschmerzen.«
Tanaquil bemerkte, daß sie ihre Fingerkuppen gegen die Stirn preßte. »Mutter, da kommt etwas die Treppe herunter.«
»Wirklich? Nur ein kleiner magischer Querschläger.«
»Nein, Mutter, ich glaube ... «
Irgendein Hindernis wurde niedergerissen, irgendeine Barrikade aus Entfernung oder Geräuschen. Das Ding in Tanaquils Kopf schien daraus hervorzuspringen und, laut wie eine direkt vor den Hallentüren geblasene Trompete, erklang das metallische Quietschen einer amoklaufenden Maschinerie.
Pflaume, Yeefa und Kissen kreischten auf. Die Amme, die alte Serviererin und die Ziegen des Triumphwagens gaben zitternde Blöklaute von sich. Die Köchin wandte sich der Tür zu, Kochlöffel und Fliegenklatsche verteidigungsbereit gezückt. Der Hauptmann und sein Stellvertreter waren mit gezogenen Schwertern,
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