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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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das Pelzknäuel des Piefels hinter ihr her sprang, daß das Tapsen seiner Pfoten sie verfolgte während sie hinter dem Einhorn her durch die leere Wüste jagte.

 
ZWEITER TEIL
     
4
     
    Ihr war sehr kalt.
    Vielleicht sollte sie besser aufstehen und ein Feuer entzünden.
    Tanaquil öffnete ihre Augen. Sie stand schon auf den Füßen, und ihr Raum war viel zu groß geworden. Er hatte keine Möbel. Er hatte einen Teppich aus weißem Schnee, Wände und eine sehr hohe Decke aus Nacht, blaßschwarz vom Mondlicht erhellt.
    Eine Leichendecke aus Angst sank hernieder und hüllte sie ein.
    Sie wußte, was geschehen war, was sie getan hatte. Natürlich war sie verzaubert oder besessen gewesen — ihre bei weitem zu intensive Beschäftigung mit den Knochen hatte dafür gesorgt. Dem Einhorn verfallen, war sie in einer verrückten Trance hinter ihm her gerannt. Nun, da sie wieder zu sich gekommen war, fand sie sich im Angesicht der Wüste wieder; auch als sie sich bedächtig umdrehte, konnte sie nichts Vertrautes entdecken, nur Schnee und Sand und Nacht, die ja auch überall dieselben waren. Die Festung ihrer Mutter war nicht zu sehen. Die Felsenkette war nicht zu sehen.
    Etwas glitzerte im Mondlicht auf dem Sand auf, von einer Dünenanhöhe herunterführend. Es war eine Spur, von den eng beieinanderliegenden Hufabdrucken des Einhorns gebildet. Jeder Abdruck hatte sich mit Eis und etwas merkwürdig Grünem gefüllt. Jeder einzelne glänzte wie eine der bunten Glasscherben aus Jaives zerbrochenem magischen Fenster. In der anderen Richtung führte die Spur über den Sand ins Leere. Sie durfte dieser Spur nicht folgen. Im Gegenteil, sie mußte die Abdrücke in die Richtung zurückverfolgen, aus der sie gekommen war. Ihre eigenen Füße hatten nicht die geringsten Abdrücke im Sand hinterlassen.
    Mit eiligen Schritten folgte Tanaquil der eisschimmernden Spur. Sie ging den Dünenhügel hinauf, was etwa eine viertel Stunde gedauert haben mußte. Auf dem Gipfel der Anhöhe angelangt, blickte sie um sich und sah nichts außer Schnee und Sand. Beides erstreckte sich endlos bis zum Horizont, nichts darauf, nicht der kleinste Hinweis. Und die Hexenspur des Einhorns war auch verschwunden. Nachtwinde hatten sie fortgeblasen, verwischt.
    War sie wirklich diesen ganzen Weg hergelaufen? Sie hatte keine Erinnerung mehr daran. Es war, als sei sie tief im Schlaf versunken und doch mitten in einem erhebenden Traum gewesen, einem Traum wie all jene, die sie zuvor geträumt hatte, in denen sie über den Schnee geflohen war.
    Nun gut, jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Sie hatte den Zauberbann abgeschüttelt und würde in wenigen Stunden erfrieren.
    »Nein«, sagte Tanaquil laut vor sich hin. Sie würde gerettet werden. Jaive würde ihr die Wachen hinterherschicken. Sie würden sie bald erreichen, sie müßte nur warten.
    Einige Meilen entfernt heulte ein Schakal den Mond an.
    Tanaquil lauschte. Die Geräusche trugen weit in diesen leeren Räumen, und doch konnte sie keinen Laut von irgendeinem Soldaten hören. Auf der anderen Seite: Sie müßten von der Festung hier kommen, sie würden verwirrt und ziellos sein ... Ob sie sie fänden? Wahrscheinlich Würde Jaive den magischen Spiegel zu Hilfe nehmen. Aber es gab hier draußen nicht den geringsten Orientierungspunkt. Selbst wenn Jaive ihre Tochter im Spiegel ausmachen würde, könnte sie sie doch nicht genau orten.
    Tanaquil fror zu sehr, um zu zittern. Ihre Füße und Hände waren taub. Sie hüpfte auf und ab und schlug die Hände gegeneinander.
    Während sie sich noch so zu wärmen versuchte, sah sie, daß etwas auf sie zusteuerte. Handelte es sich um einen hungrigen Hund oder einen einzelgängerischen Schakal?
    Da sie ihre Abendkleidung trug, verfügte sie noch nicht einmal über ihr übliches Messer. Sie würde also ihre Fäuste gebrauchen müssen.
    »He!« schrillte der Hund oder Schakal, der keiner war, über den Sand.
    »Piefel ... «
    »Fels«, keuchte das Piefel, als es sich gegen ihre Unterschenkel schmiegte, »großer Fels mit Loch.«
    »Meinst du die Hügelkette?«
    »Fels«, wiederholte das Piefel. Es nahm einen Mundvoll Kleid und zerrte an ihr. Tanaquil gab nach und rannte hinter ihm her. Sie hasteten über den Schnee, rutschten manchmal aus oder schlugen der Länge nach hin. Die Nacht war ein einziger brennender Schmerz aus Kälte und Stolpern geworden.
    Der Fels schien aus dem Nichts aufzutauchen, erhob sich unvermittelt und drohend aus den Dünen. Tanaquil hatte ihn nie zuvor gesehen.

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