Das Mädchen und das schwarze Einhorn
einem bodenlangen, weiten, seidenknisternden Rock sowie einem hochgeschlossenen Oberteil mit Fischbeinstäbchen und kompliziert geschnittenen Ärmeln. Es war über und über mit einem Muster aus Lyren und Lilien in himmelblauer Stickerei geschmückt. Unvermeidlicherweise lugte Vogel an Tanaquil vorbei ins Zimmer.
»Ooh, was ist das denn?«
»Was genau?«
»Dieses baumelnde Glitzerding.«
»Nur etwas, was ich irgendwo gefunden habe. Es hängt schon seit Äonen dort.«
Vogel wirkte nicht überzeugt, sagte aber nur: »Die Herrin, Eure Mutter, hat mir aufgetragen. Euch für das Fest vorzubereiten.«
Tanaquil runzelte die Stirn. Wie sie befürchtet hatte, bestand ihre Mutter darauf, das Essen übertrieben vornehm und voll von hektischen kleinen Ritualen zu gestalten. »Ich soll mein graues Samtkleid tragen«, vertraute Vogel ihr an.
»Oh, wie schön«, erwiderte Tanaquil.
»Kurz nach Sonnenuntergang wird der Gong ertönen. Dann sollen wir runterkommen.«
Offensichtlich freute Vogel sich auf das Mahl. Wahrscheinlich freute sich jeder außer Tanaquil auf den Abend, doch sie fühlte sich nur gestört, ja fast peinlich berührt, denn Jaive hatte ihr das Festessen vorgesetzt wie die Köchin den Vorschlag, sie möge doch einen Kuchen backen.
Als sie Vogel davon überzeugt hatte, sie allein zu lassen, schloß sie die Tür und schleuderte das kostbare Gewand aufs Bett. Das Piefel kam, um es einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.
Tanaquil war nicht zufrieden. Sie hatte herausgefunden, daß sie keine Lust mehr hatte, sich ihrem Arbeitstisch unter den baumelnden Knochen zu nähern.
»Heute abend«, wandte sie sich an das Piefel, »vor diesem blöden Fest, will ich versuchen, es in Bewegung zu versetzen.«
Dann drehte sie dem Einhornskelett den Rücken zu und setzte sich in die Fensteröffnung. Doch schien es einen weitreichenden Widerschein bis in die glitzernde Wüste zu werfen.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang kam Vogel zurück, um Tanaquils Haar in große Korkenzieherlocken zu legen. Auf ihrem Weg hierher war indes irgend etwas mit den Lockenwicklern geschehen. Sie wanden sich und hüpften und entkamen Vogels Händen schließlich auf zwei Beinen, um sich in eine Zimmerecke zu flüchten. Das Piefel fauchte und spuckte sie von seinem Lager auf Tanaquils Kleid an.
»Ihr hättet es nicht zulassen dürfen, daß Euer Haustier das gute Kleid vollhaart«, tadelte Vogel.
Sie löschten das Feuer, das für die Lockenwickler gedacht gewesen war, verscheuchten das Piefel von dem Gewand - »Nein, nett hier«, schrie es sie an und krallte Fäden aus der Stickerei -, und Vogel kleidete Tanaquil an und brach in Entzückensschreie über ihr Werk aus.
»Ich kann vor lauter Knochen kaum noch atmen«, grollte Tanaquil.
Alles hier bestand aus Knochen. Das einengende Fischbeinmieder, die stinkenden Leckerbissen des Piefels unter dem Bett, das glimmernde Skelett, das von der Decke herunterhing - und dem Vogel mittlerweile nicht den kleinsten Blick mehr gönnte.
Das Piefel schmollte auf den Kissen.
»Geh und zieh dein Samtkleid an«, trug Tanaquil dem Mädchen auf. »Wir treffen uns, wenn der Gong nach Sonnenuntergang erklingt.«
Als Vogel wieder gegangen war, schürzte Tanaquil den Rock ihres Gewandes und kletterte wieder auf den Arbeitstisch. »Jetzt .« Sie steckte eins der feineren Werkzeuge, die sie gewöhnlich zur Reparatur von Uhren nahm, vorsichtig in eine kleine Bronzeschraube. Sodann setzte sie das Zahnrad im Vorderbein des Wesens in Gang, wozu sie den Griff eines Schraubenziehers benutzte. Das Rädchen drehte sich, seine Umrisse verschwammen. Ein Gelenk bewegte sich, eine Spindel zog sich zusammen, als eine Nadel zurückschnellte -
»Du willst es also nicht tun«, sagte Tanaquil kühn zu dem Einhorn. »Du hättest mit dem Huf auf den Boden stampfen sollen - meinetwegen auch durch die Luft, wenn du willst. Warum willst du dich nicht bewegen?« Sie versuchte dieselbe Prozedur mit dem rechten Vorderbein. Das Zahnrädchen drehte sich, die bronzenen Gelenke bewegten sich, aber nichts geschah. »Habe ich die Gewichte falsch bemessen?« Mit verminderter Nervosität, da sie nun enttäuscht und verwirrt war, bemühte Tanaquil sich, den spitz zulaufenden Schwanz, den schimmernden Kopf zu wecken. Sie erhielt keine Antwort. Allmählich begann das unbewegliche Einhornskelett eine rubinrote Farbe anzunehmen. Die Sonne versank hinter dem Fenster.
»Wenn du nicht willst, dann willst du eben nicht.«
Tanaquil stieg vom Tisch
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