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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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dann erkannte Tanaquil ohne Zögern, daß das, was das Piefel ihr gebracht, aus dem Sand unter dem Hügel ausgegraben hatte, ein Horn war. Und obwohl sie nie zuvor ein solches Horn zu Gesicht bekommen hatte, erkannte sie es, so wie jeder, der in dieser Welt lebte, es erkannt haben würde.
    »O Piefel«, sagte Tanaquil. »Bei Gott. Es ist ein Einhorn. «

 
3
     
    Als Tanaquil fünf Tage später erwachte, fielen ihre Augen nicht gleich auf das Porträt von Jaive. Instinktiv hatte Tanaquil sich im Schlaf herumgeworfen und lag nun so, daß sie auf ihren Arbeitstisch blickte. Und dort hing, freischwebend, das Sonnenlicht vom Fenster widerspiegelnd, das vollständige, fertige Knochengerüst des Einhorns.
    Es war elfenhaft und wunderschön, glich weniger einem Skelett als vielmehr irgendeinem feeischen Musikinstrument. Die Ersatzröhren und -Scheiben aus blankem Kupfer verdarben den Gesamteindruck keineswegs, waren nichts als warme Flecken auf dem Kristall, und der Huf war wie ein Punkt aus Feuer. Der Schädel des Einhorns sah wie ein blasser Regenbogen aus, und das Horn, das bei Tageslicht nur mehr wie eine riesige Muschel aus Perlmutter wirkte, war mit Bronzenägelchen auf der Stirn befestigt wie ein Diadem.
    Das Einhorn zitterte leicht in einem Lufthauch des frühen Morgens. Die Ketten, mit denen es an dem Deckenbalken aufgehängt war, sahen wie ein strahlender Regenschauer aus. Es war eine Art von auserlesenem Mobile.
    An den Gelenken befanden sich die dünnen, glänzenden Hebelchen und Rädchen, die Tanaquil dort um Mitternacht befestigt hatte.
    Unter dem Skelett, auf ihrem Arbeitstisch, hockte das Piefel.
    Die Soldaten hatten schon Bemerkungen über das Piefel gemacht, das Tanaquil während ihrer Besuche bei dem Schmied nicht von der Seite gewichen war. Sie hielten das Piefel für eine Art von Schoßtierchen und bewunderten seine Anhänglichkeit, als es in der Schmiede saß und auf die Arbeit starrte. Tanaquil wußte, daß das Piefel sich ausschließlich für die Einhornteile interessierte. Während sie in ihrem Zimmer daran gearbeitet hatte, hatte es sie von seinem Lager unter ihrem Bett aus nicht aus den Augen gelassen; manchmal war es aufgestanden, um über ihre Werkzeuge zu tapsen und sie durcheinanderzubringen. Es sprach nur selten. Gestern waren die Hirten zu der Festung gekommen, und große Fleischstücke wurden nun für Jaives Festmahl zubereitet. Tanaquil hatte das Piefel mit mehreren Stücken versorgt, die es unter ihr Bett gezerrt hatte, um sie dort zu verspeisen — ein unschönes, geruchsintensives Arrangement, das Tanaquil geflissentlich übersah.
    »Hallo Piefel«, sagte Tanaquil nun zu ihm, um es wissen zu lassen, daß sie es bemerkte. Das Piefel ignorierte sie. Langsam hob es eine Pfote, und bevor sie es daran hindern konnte, berührte es den untersten Knochen des linken Hinterbeins.
    Ein süßer, glockenheller Ton erklang und verebbte zwischen den Knochen des Skeletts. Tanaquil setzte sich auf. Das Piefel sprang rückwärts von dem Tisch herunter und schoß unter das Bett.
    »Siehst du«, erklärte Tanaquil mit fester Stimme und beugte sich nieder, um dem Piefel direkt ins erstaunte Gesicht zu blicken, »ich hob dir doch gesagt, du sollst es nicht berühren.«
    Sie stieg aus dem Bett und ging zu dem aufgehängten Einhorn herüber. Leicht wie Staub berührte sie die Knochen der Vorderbeine, und nochmals erklang das helle Glockenklimpern. Sie fuhr mit den Fingern entlang der Rippen des Brustkorbs, und diesmal klang es, als rinne ein Bächlein aus Silberperlen eine Marmortreppe hinunter.
    Letzte Nacht hatte sie es nicht über sich gebracht auszuprobieren, ob das Einhorn sich bewegen lassen würde. Halb fürchtete sie, es könne sich tatsächlich rühren und durch diese Bewegung ein Teilchen lösen, das dann herausbrechen und abfallen könnte. Von dieser konkreten Befürchtung abgesehen, hatte sie auch ganz einfach Angst.
    Das Klirren der Knochen erfüllte sie mit einer ehrfürchtigen Scheu. Sie trat beiseite, ging wieder zu ihrem Bett, setzte sich hin und betrachtete das Einhorn einfach, während das Piefel unter dem Bett hervorlugte und mit tellergroßen Augen ebenfalls auf das Skelett blickte.
    Vogel klopfte an der Tür, verbeugte sich und hielt ihr eine wallende olivgrüne Seidenkaskade hin.
    Tanaquils >beste< Kleider gingen nie auf magische Irrwege, denn ihre Mutter hielt sie in einem Schrank in ihrem eigenen Gemach unter Verschluß. Tanaquil nickte ihre Zustimmung zu dem Kleid, bestehend aus

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