Das Mädchen und das schwarze Einhorn
dich geheißen habe!« kreischte Jaive. »Gehorche mir !«
Und sie schleuderte irgendeinen mächtigen Spruch, einen erratischen Block ihrer Zauberkunst, durch den Saal auf das unberechenbare fliegende Ding aus Knochen und Seide, das Chaos war.
Die Erde bebte.
»O Gott«, seufzte die Köchin aus ihrem Versteck. »Jetzt hat sie etwas getan-«
Dann herrschte Stille. Vermutlich atmete keiner mehr. Der große, zugige, von Echos gefüllte Saal wurde plötzlich erstickt, gefüllt, als wenn die angehaltene Zeit selbst dort aufgetürmt sei. Niemand konnte sich bewegen. Tanaquil meinte ihren Herzschlag zu spüren, aber meilenweit entfernt unter ihren Füßen. Sie wandte den Kopf, und es gelang ihr, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, als sei sie in klebrigem Leim gefangen.
Und wie klebrig dunkel es nun war! Die Fackeln und Kaminfeuer hatten sich zu etwas Entsetzlichem, Schwarzrotem verwandelt.
Über den Saal hinweg, über das Chaos aus zitternden Mädchen, zerbrochenem Geschirr, Bratensaft und Ziegen, sah Tanaquil, wie der Haufen rosiger Seide in sich zusammensackte, dort, wo das fliegende, rasende Ding gewesen war. Jaives Findling hatte es getroffen. Nun hatte der Vorhang keine Gestalt mehr. Kein Hufklappern, kein Räderrasseln, kein kosmischer Schimmer und Glanz.
»Mutter, was hast du getan?«
Doch Tanaquils Stimme verließ ihren Mund nicht, denn auch dieser war voll von klebrigem Brei.
Was Jaive anging, so war sie geschrumpft, nicht auf ihre natürliche, immer noch einschüchternde Größe, sondern zu etwas irgendwie Kleinerem. Ihr Haar war inmitten des düsteren Feuerscheins ohne jede Farbe.
Und dann zischte ein Speer aus purem Licht durch den Saal.
Tanaquil schnappte nach Luft. Es war, als sei ihr Herz mit Stricken gefesselt und jemand ziehe nun an ihnen.
Der zusammengesunkene Seidenhaufen schien Blasen zu werfen; er bauschte sich wie ein Zelt auf, um dann plötzlich beiseite zu rascheln. Etwas erstand, und die Seide glitt von ihm ab.
Jaives Saal war vom Licht eines Schneemondes durchflutet.
Und in diesem Licht, das es selbst schuf, das von seinem Spiralhorn strahlte, erblickte Tanaquil das Einhorn.
Das Einhorn.
Es war kein Knochentier mehr. Es hatte Fleisch und Gestalt angenommen. Es war schwarz wie die Nacht, schwarz wie alle Nächte der Welt zusammen, und es funkelte, wie ein Komet in der Nacht erstrahlte. Vor dieser brennenden Schwärze waren die Mähne und der flatternde Schweif wie ein scharfes, silbergoldenes Feuer jenseits des Meeres. Es war mit diesem scharfen Meeresfeuer geschweift, und Funken davon schimmerten auf den Haarbüscheln der schlanken Fesseln. Seine Augen glühten rot wie Metall in der Schmiedeesse. Es war nicht nur Schönheit und Kraft, es war auch Furcht. Es wuchs und wuchs zu einer Höhe empor, die, so schien es, die Halle sprengen müßte, und sein schwarzer Schatten wand sich um die Gestalt, weniger schwarz jedoch als das Wesen selbst.
Jaive sprach mit fester Stimme. »Ich grüße dich. Doch bei den Mächten, die ich zu beschwören vermag, nimm dich in acht vor mir.«
Das Einhorn schnaubte, und feuriges Gas entwich seinen Nüstern. Es schlug mit dem Vorderhuf auf den Boden, und der Saal wackelte wie von einem sanften, bedrohlichen Erdbeben.
Und dann sprang das Einhorn hoch in die Lüfte. Es war wie ein Bogen aus Wind, und verschwand mit einem Geräusch wie weitentferntes Grollen, Glocken und Donner.
Dort, wo es wieder landete, jenseits der Gäste, der Unordnung, des Tischs, berührte es das runde magische Fenster mit seinem Horn. Das Fenster zersprang wie eine Eisscholle. Glassplitter spritzten hoch in den Himmel, und die Kälte aus Nacht und Schnee blies herein. Das Einhorn jedoch stürmte hinaus. Es schwang sich in den Abgrund aus leerer Schwärze und war verschwunden
Mit einemmal wußte Tanaquil, was an ihr zerrte. Sie wußte es, da es sie hochzog und in einem lächerlichen, wilden Tanz vorwärts zwang. Bevor sie verstand, was sie tat, bevor irgend jemand auch nur daran denken konnte, sie festzuhalten, war sie schon durch den Saal gestürzt, durch das Loch, das einmal ein Fenster gewesen war, und auf der anderen Seite auf dem eisverkrusteten Sand gelandet. Sie spürte den Frost durch ihre Seidenschühchen, während sie rannte, spürte den vagen Wunsch, sie trüge nicht gerade diese Schuhe. Aber sie begriff noch nicht wirklich; was mit ihr geschah. Der Himmel war ungeheuer und riesig, das Land ebenfalls. Und das Einhorn raste. Und hinter sich hörte sie schwach, daß
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