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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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schmale schwarze Gestalt nahm gerade die dürre Hand von der Stirn des Sterbenden. Eine heisere Stimme murmelte raue Worte. Willem starrte sie wie gebannt kurz von Kopf bis Trippe an, dann zog er sich schnell zurück und verkroch sich in seine Ecke an der schützenden Mauer der Kirche. In seiner Waldklause hatte er Gott um Vergebung für seine Sünden gebeten, Jahr für Jahr, bis sein Körper zu schwach für die Wintermonate geworden war. Doch er kannte sich aus mit Himmel und Hölle! Dort stand der Teufel, der kam, um einen armen Sünder zu holen. Und wenn der Herr seinen Segen von ihm genommen hätte, dann wäre heute auch Willem dran gewesen. Nicht, dass er sich vor dem Sterben fürchtete – doch um sein Seelenheil hatte er die letzten zehn Jahre erbittert gekämpft.
    Der alte Mann betete, wie er noch nie gebetet hatte, und er betete noch, als Menschen aus der Kirche und aus den umliegenden Häusern zusammenliefen und den toten Vorsteher des Franziskanerklosters fanden, der so unglücklich von den Weinfässern überrollt worden war. Als die Leute Willem fragten, was er gesehen hatte, da sagte er ihnen die Wahrheit: »’n’Teufel leibhaftig!«, doch die meisten starrten ihn nur voller Angst an und bekreuzigten sich.
    Die Narren! Willem hatte genug von den Zweiflern und Zauderern. Er humpelte fort, als er in eine Gestalt hineinlief, die hinter einem der breiten Strebepfeiler stand, die der Bettler gerade umrundete. Nach dem ersten Schreck murmelte Willem: »Vergeb’ng!« Doch der Kerl erwies sich bei näherem Hinschauen anhand der abgewetzten Kleidung, den hungrigen Augen und dem zotteligen Haar als nicht viel besser als er selbst. Vermutlich ein heimatloser Schausteller. Willem verabscheute diese umherziehenden Burschen, die den Ruf von ehrlichen Bettlern mit ihren Machenschaften in Gefahr brachten.
    Willem hinkte also in die andere Richtung weiter, da sah er einen Fetzen schwarzen Stoffes an dem Karren, von dem die Weinfässer gerollt waren. Der alte Willem keckerte in sich hinein. Der Teufel trug ein irdisches Gewand! Wer hätte das gedacht!

KAPITEL 2
    A n diesem ersten Tag des August im Jahr 1465 drängten sich die Bewohner und Bürger Lübecks dicht auf dem weiten Marktplatz vor dem Rathaus, um sich wider besseres Wissen davon überzeugen zu lassen, dass mit der Welt alles in Ordnung sei. Denn die Welt musste in Ordnung sein; das Leben sollte bleiben, wie es war, denn man kannte schließlich kein anderes.
    Alle Schichten der Einwohnerschaft waren vertreten: Vom reichen Bürger in kostbaren und modisch kurzen Houppelandes über Frauen in engen Kleidern mit weiten Röcken aus flandrischem Tuch bis zum Handwerker in brauner Tunika und dem ärmlichen Tagelöhner im groben Kittel – alle waren gekommen. Dazwischen boten Goldschmiede in den Buden unter den Arkaden des Rathauses lautstark Broschen und Ringe aus Gold und Silber an, während Handwerker und Bauern auf Fässern aufgebockte Markttische mit Schuhen, Rüben und Kohl gefüllt hatten. Possenreißer schnitten zur Zerstreuung der Zuschauer Grimassen, vollführten Verrenkungen und Ballkunststücke, einige spielten mit Fiedel und Schellen auf.
    Die laute Fröhlichkeit der Spielleute verwandelte den ernsten Anlass der Bursprake in ein ausgelassenes Fest. Manches Mädchen ließ die Zukunftssorgen hinter sich, als sie quiekend vor einem Narren mit riesigem schwingendem Gemächt aus gestopftem Stoff über den Platz floh, mancher Bursche hetzte räudige Hunde an der Leine aufeinander und piesackte sie mit Stöcken, um sie zur Raserei anzustacheln. Für gewöhnlich staute sich die Sommerhitze nur selten in Lübeck, doch dieser Sommer war nicht gewöhnlich, und so hing die warme Luft mittlerweile stickig über der Stadt.
    Marike folgte ihrem Vater Johannes Pertzeval, der wiederum hinter dem breiten Rücken des jüngeren Knechts Hinrich einherschritt. Marike hielt am Rande der Menschenmenge inne und reckte den Hals, um bessere Sicht zu bekommen. »Vater, ich wollte noch über den Markt gehen, weißt du noch?« Sie hielt Ausschau nach ihrer Freundin Lyseke Oldesloe, doch die war noch nirgendwo zu sehen.
    Johannes Pertzeval drehte sich zu Marike um. »Ich habe eh noch ein paar Leute zu treffen.« Er musterte ihr Gewand. »Warum hast du nicht das prachtvolle rote Kleid von deiner Mutter angezogen? Es würde dir sicher gut stehen!«
    Marike zuckte ausweichend mit den Schultern. Das Kleid lag ganz zuunterst in ihrer Truhe und war das letzte, das die Mutter erhalten

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