Das Mädchen und der Schwarze Tod
mit den schmierigen Fingern – der Spielraum der Fesseln ließ immerhin etwas Bewegungsfreiheit zu – den besudelten Stoff ihres Leinenhemds Stück für Stück hoch, bis erst ihr Knie, dann ihr Oberschenkel und schließlich die geschwollene Leistengegend sichtbar wurde. Dort offenbarte sich die volle, schreckliche Wahrheit. In der Leistenbeuge prangten zwei Flecken von Daumennagelgröße. Die Haut darum herum war gerötet und teils zerkratzt, in weiterem Umfeld hatte sie sich dunkel gefärbt wie ein Bluterguss.
Marike wurde kalt. Sie bekreuzigte sich. »Mein Gott, Lyseke.« Der Drang, die Freundin in den Arm zu nehmen, war beinahe übermächtig. Sie wollte das hilflose Mädchen trösten, wollte bei ihr sein, ihr zeigen, dass sie nicht allein war. Doch das hieße, den Tod zu umarmen.
Die Kranke lächelte wieder. »Es … es tut mir leid«, murmelte sie. Sie wollte eine Hand nach Marike ausstrecken, doch sie vollendete die Geste nicht. Die Bänder an ihren Handgelenken hatten ihre Haut schon aufgerieben.
»Was sollte dir denn leidtun, Schwesterchen?«, fragte Marike liebevoll. Sie fühlte sich so entsetzlich müde. Vielleicht wäre es viel einfacher, sich hier und jetzt zu der Freundin ins Bett zu legen. Sie wäre alle Sorgen außer denen um ihre eigene Gesundheit los. Eine Woche, vielleicht etwas mehr oder weniger, und alles wäre vorbei.
»Ich habe dich eine Höllenkreatur genannt«, murmelte die Kranke. »Ich hätte dir nicht die Schuld für Gunthers Tod geben sollen. Ich war … wütend und dumm. Der Herrgott weiß, dass ich es bereue!«
Obwohl Marike wusste, dass damals die Trauer aus Lyseke gesprochen hatte, taten ihr diese Worte gut. »Das habe ich doch längst vergeben, Liebes. Mache dir darum keine Gedanken. Du musst erst einmal gesund werden!« Sie betrachtete das kränklich blasse Gesicht im Bett vor ihr. Sicher, aufzugeben wäre leicht. Doch jetzt musste sie stark sein. Stark für Lyseke, für ihren Vater, für Notke.
Als die Kranke ein kraftloses, trockenes Husten von sich gab, brauchte Marike einen Moment, um das als Lachen zu identifizieren. »Ich werde nicht mehr gesund, Dummchen. Das weißt du doch.«
»Sag so etwas nicht«, schluchzte Marike. »Bitte sag so etwas nicht!«
»Psst«, machte Lyseke beruhigend. »Du musst nicht weinen. Dann muss ich auch weinen. Und weinen tut weh.« Marike wischte schnell die Tränen fort und versuchte, sich zu beherrschen.
»Ich bin nur froh«, wisperte die Kranke, »dass du gesund bist. Vater sagt, Lynow ist tot. Ich war in Sorge um dich.«
»Mir geht es gut«, stammelte die Gesunde hastig. Das galt zwar nur für ihren Körper, aber genau das meinte die andere ja jetzt auch. »Ich bin gesund!«
»Das ist gut«, seufzte Lyseke. Ihre Wangen verloren die Blässe und röteten sich vor Hitze. »Wenn du krank wärst, hättest du die Beulen längst.«
Das stimmte. Doch das warf eine andere Frage auf. Warum war Marike selbst nicht erkrankt? Sie hatte selbst viel länger und mehr Kontakt mit Lynow gehabt als Lyseke, die sich die Pest ja vermutlich noch auf dem Rovershagen von ihm geholt haben musste. Marike hatte Lyseke auf das Fest geschleift, sie hatte den Streit mit Lynow gehabt. Doch sie selbst war gesund geblieben. Leiden musste nun die Freundin. Marike stöhnte ohnmächtig auf und rang nach Luft. Wie konnte Gott so etwas zulassen? Wie konnte er all das Leid zulassen, das Lübeck heimsuchte?
»Du solltest nicht krank sein«, flüsterte sie dann, als sie wieder zu Atem kam. »Ich sollte krank sein. Das wäre gerechter.«
»Blödsinn«, grunzte Lyseke. Sie öffnete mühsam die Augen, um sie vorwurfsvoll anzustarren. »Ich habe meinen Frieden gemacht. Gott hat mir meinen letzten Wunsch erfüllt.« Sie lächelte wieder, doch die verschmierte Grimasse machte es Marike nur noch schwerer, ihre Tränen zurückzukämpfen. »Du bist hier.«
»Ja«, schluchzte Marike. »Ich bin hier. Und ich liebe dich, kleine Schwester!« Sie hatte keine Angst mehr. Langsam streckte sie die zitternde Hand aus und berührte Lysekes Daumen. Sie streichelte erst die Handfläche und ließ dann ihre Finger einen nach dem anderen zwischen die der Freundin gleiten, bis sie fest miteinander verschränkt waren. Sie drückte kurz, damit die andere spürte, dass sie für sie da war. »Ich bin hier.«
»Du bist wirklich ein Dummkopf!«, ereiferte sich Lyseke. Sie erwiderte den Druck so stark sie konnte. Marike spürte es kaum. »Die Pest ist überall«, erwiderte sie. »Man kann ihr eh nicht
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