Das Mädchen und der Schwarze Tod
verändert hatte! Waren sie noch Freundinnen? War Marike sich treu geblieben? Sie wusste ja nicht einmal, was Lyseke damit genau gemeint hatte. Viel wichtiger aber war, dass zwischen ihnen alles wieder gut würde und Marike ihre Freundin zurückbekäme. Zwischen all den Schrecknissen gäbe es auch so viele aufregende und zugleich verwirrende Dinge zu berichten!
Entschlossen schob Marike die Tür zu der Kammer auf und schreckte zurück. Dahinter stank es übel – nach Urin und Kot, verbrannten Kräutern, aber auch nach Eiter und Auswurf. In einer Großstadt wie Lübeck war man ja einiges an Gestank gewohnt – trotzdem musste sie würgen.
»Lyseke?«, fragte Marike. Sie hielt sich den Ärmel ihres Gewandes vor die Nase. »Lyseke? Bist du da?« Sie erhielt keine Antwort. Also schlich Marike in den Raum hinein, schloss die Türe leise wieder hinter sich, bevor sie näher trat. Die Kammer war mit dreckigen Tüchern, Holzeimern und -schüsseln mit verschiedenstem Inhalt gefüllt. Räucherschalen schwängerten die Luft mit auf Kohlen verbrannten Kräuterdüften.
»Gunther?« Lysekes Stimme klang leise vom Bett her, das mit einem am Deckbalken befestigten Zelt aus dünnem Leinen vom Rest des Raumes abgetrennt war.
Marike trat mit klopfendem Herzen näher. »Nein, Marike, Lyseke. Dein Gunther …« Lyseke konnte doch nicht vergessen haben, dass Gunther jüngst gestorben war? »Ich bin’s, Marike, Liebes. Geht es dir nicht gut?«
Die Schlafstatt knarrte, als sich darin jemand bewegte. Marike trat an den Vorhang vor dem Bett heran und hob die zitternde Hand.
»Nicht«, befahl ihr die Freundin hinter dem fleckigen Leinentuch schwach.
»Lyseke, was ist denn nur?«, fragte Marike bedrückt. »Ich habe dich so vermisst! Geht es dir gut?«
»Nicht so gut, nein«, murmelte die Freundin. »Ich fühl mich nicht so gut.« Die Stimme klang schleppend, als dringe sie wie aus einem tiefen Traum hervor. Die Furcht griff nach Marikes Herz, und so zog sie, noch bevor die Kranke ein zweites Mal protestieren konnte, den Vorhang weg, der den Blick auf die Schlafstatt verhindert hatte.
Dort lag Lyseke verdreht auf der Seite, die Arme und Beine angewinkelt wie im vollen Lauf und doch schwach wie ein junges Kätzchen. Die Handgelenke waren rechts und links mit langen Bändern an das schwere Kastenbett gefesselt, das Bettzeug besudelt und völlig verdreht. Das schöne Haar bedeckte filzig und wirr das Kissen, die Haut glänzte blass und feucht vom Schweiß. Ihr dünnes Hemd wies unzählige Flecken in rostbraun und gelb auf – altes Blut und getrockneter Urin. Neben der Schlafstatt standen alte gefüllte Nachttöpfe – doch dem Gestank und den Flecken auf den Wolldecken nach zu urteilen hatte das Mädchen in der letzten Zeit nicht immer die Kraft oder Freiheit gehabt, diese zu benutzen. Auf einem Hocker standen eine unangetastete Holzschüssel mit Eintopf und Brot, ein Bierkrug sowie eine brennende Öllampe. Zärtlich dachte Marike daran, dass Lyseke die Dunkelheit hasste, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.
Unfähig sich zu bewegen, gewann Marike ihr Gefühl wieder, als sie die Tränen ihre Wangen herunterlaufen spürte. Wie lange sie neben dem Bett gestanden und geweint hatte, konnte sie nicht sagen. Sie verstand auch nicht – Lyseke war doch jung, jünger als sie noch. Wie konnte es ihr da so schlecht gehen? Jemand musste sie vergiftet haben, so wie man es sich vom toten Bischof erzählte! Die Freundin hatte Mühe, den Kopf herumzudrehen, um sie anzuschauen. Ihr Blick war glasig und schien in weite Ferne zu starren. Sie hatte Fieber und offenbar Schmerzen, doch sie versuchte mutig ein Lächeln. Es sah kläglich aus.
»Lyseke«, stammelte Marike, hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, die Freundin in den Arm zu nehmen, und dem Ekel vor dem Zustand ihres Leibes. »Was ist denn nur mit dir? Bist du krank?«
»Dummerchen«, schmunzelte die Kranke schleppend. »Du hast schlimme Dinge noch nie gern akzeptiert.«
»Hast du – bist du – ich meine -«
»Die Pest, Marike. Hab keine Furcht, es auszusprechen.«
Marikes Kopf war noch immer ganz leer. Viele Leute hatten bereits die Pest. Aber Lyseke? »Das ist doch Blödsinn. Es wird ein schlimmes Fieber sein, nichts weiter! Hast du einen Arzt gefragt? Du musst einen Arzt fragen, der wird dir sagen, dass das nicht so schlimm ist.«
Statt einer Antwort zog Lyseke quälend langsam die Wolldecke zur Seite. Allein dieser Akt bereitete ihr offenbar große Mühe. Dann raffte sie
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