Das Mädchen und der Schwarze Tod
Anselmus und Martin gestorben waren. Und daran, dass seine eigene Tochter an der Pest erkrankt war. Eine kalte und bodenlose Wut nistete sich in ihren Eingeweiden ein. Ja, Oldesloe hatte sie das Hassen gelehrt.
»Er wird dafür bezahlen, Lyseke.« Marike erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. Die Kranke nickte fiebrig, obwohl Marike bezweifelte, dass sie sie verstand. In Lysekes Augen stand bereits die dunkle Furcht vor dem Jenseits. Die Furcht, dass ihre Sündenlast auf Erden so groß war, dass der Herrgott sie ihr nicht vergeben würde. Der Zweifel über den eigenen Vater musste diese Angst ins Unermessliche steigern.
Die Kaufmannstochter drückte Lysekes Hand ein letztes Mal. Sie musterte alle Kraft, die sie in sich noch finden konnte, und lächelte aufmunternd. »Ich habe doch gesagt, ich finde es heraus. Also werde ich es herausfinden. Mach dir keine Sorgen. Ich werde es dir beweisen.« Der Druck der Hand wurde schwach erwidert. »Schlaf jetzt, Liebes«, murmelte Marike. Doch die Aufforderung war unnötig, denn die Freundin hatte kaum noch Kraft, wach zu bleiben. Also stand die Besucherin auf, löste die Finger vorsichtig aus dem Griff und betrachtete das arme Ding in der Bettstatt noch ein letztes Mal. Das also bleibt am Ende von uns übrig, dachte sie bei sich. Ein Häufchen Elend.
Dann machte sich grimmige Entschlossenheit in Marike breit. Die Pest machte das Sterben in Lübeck schlimm genug. Doch die Pest war Gottes Werk. Die Morde waren das nicht, sie waren Menschenwerk. Und Menschen konnte sie das Handwerk legen. In einem Anfall wütenden Tatendranges verließ sie Lysekes Kammer und eilte die Treppe hinunter. Sie achtete nicht darauf, ob jemand in der Diele stand und sie herunterkommen sah, oder ob die Tür zur hinteren Kemenate offen stand. Sie stürmte durch die Diele zur Schreibkammer und riss die Tür auf. Der Raum dahinter war verwaist und sah beinahe genauso aus wie vor einer Woche, als sie das Holzbuch zum ersten Mal gesehen hatte. Allerdings war das Chaos beseitigt worden, die Papierbögen und Pergamente lagen übereinandergestapelt in einer offenen Holztruhe. Wie besessen durchwühlte Marike die Truhen und das Seitenschränkchen und nahm sogar die geschnitzte hölzerne Kogge in die Hand, um zu schauen, ob sich darin etwas verbergen ließ. Sie machte sich keinerlei Gedanken darüber, ob Oldesloe hinterher bemerkte, dass jemand an seinen Habseligkeiten gewesen war. Sollte er nur kommen! Sie schob sogar die Truhen von der Wand ab. Schließlich sah sie sich mit leeren Händen um. Das Holztafelbuch war nicht hier.
Auf einen Geistesblitz hin lief sie wieder durch die Diele, die Treppe hinauf in die erste Speicherebene und riss die Tür zu Oldesloes Schlafkammer auf. Eine reich geschmückte Bettstatt mit Leinen- und Seidenstoffen, zwei große Truhen und ein Seitenschränkchen bildeten die einzige Ausstattung. Marike riss auch diese Truhen auf und durchwühlte sie. Pelze aus Nowgorod, perlenbesetzte Tuche aus Flandern, edelsteinbestickte Seide aus Florenz, sogar eine schlichte schwarze Robe. Die Garderobe Anton Oldesloes bezeugte seinen Größenwahn. Neben der Kleidung fand sie lauter Kleinkram – einen Paternoster, einen Langzinkenkamm aus Knochen, eine angeschlagene Pferdchenfigur aus Ton. Doch kein Holztafelbuch, keine Darstellung dieses widerlichen Schlangengötzen, dessen Schnitzerei sie so erschreckt hatte.
Mit einem letzten Blick durch die Schlafkammer stellte Marike frustriert fest, dass sich das Holzbuch auch hier nicht befand. Sie verließ die Kammer, körperlich und seelisch völlig erschöpft. Es scherte sie nicht, dass sie unten in der Diele Stimmen hörte, sie wankte die Treppe herunter und stolperte dabei beinahe. Sie wusste nicht, was sie nun noch tun konnte. Das Holzbuch war fort, und mit ihm die Chance, Oldesloe an die Kirche oder die Gerichtsbarkeit auszuliefern.
»Jungfer Marike?« Bernt Notke ergriff sie bei der Schulter und zog sie in die Dornse hinein. Er lehnte sie gegen die Wand, die man von der Diele aus nicht einsehen konnte. »Es tut mir so leid!«, murmelte er. Marike schaute ihn irritiert an. »Alberte hat mir von Lyseke erzählt«, erklärte er. »Sie hat schreckliche Angst, denn Oldesloe zwingt sie dazu, sich um die Kranke zu kümmern …«
Marike nickte nur stumpf.
»Ihr habt sie gesehen?«
Wieder nickte sie.
»Und Ihr habt mit ihr gesprochen?«
Marike bestätigte auch das stumm.
Notke strich ihr über das Haar. Nach einem Augenblick fragte er leise: »Wie
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