Das Mädchen und der Schwarze Tod
röchelte nach Luft, doch er atmete nur Rauch. Es gelang ihm, sich wankend auf die Beine zu ziehen. Er tastete in der Schwärze nach Werkzeug und bekam einen Hammer zu fassen, den er noch kraftlos gegen die Tür schleuderte. Das Gerät fiel herunter und blieb auf dem festgestampften Boden liegen. Dann brach Hartmann zusammen und sah mit schwindendem Bewusstsein zu, wie die Flammen seine Werkstatt verschlangen.
KAPITEL 13
D as Ave-Maria hallte hoch hinauf zu den mit grünen, gelben und roten Bögen ausgemalten Spitzbogengewölben von Sankt Marien, drang durch die Arkaden in die Seitenschiffe und fing sich dort schließlich zwischen den von Licht und Mosaikglas bunt gefärbten Strebepfeilern. Nicht einmal zur Bittmesse waren viele Menschen gekommen, um für Freunde, Angehörige und Verwandte zu beten und den Herrn anzuflehen, dass der Sturm des Schicksals an Lübeck vorbeiziehen möge. Und wer gekommen war, trug zum Schutz gegen die Pest ein Tuch oder einen Schal vor dem Mund.
Auch Johannes Pertzeval und seine Tochter Marike befanden sich heute unter den Betenden im Schonenfahrergestühl schräg gegenüber der Schläferkapelle, das Gesinde stand daneben. Vater und Tochter hatten sich über die gefalteten Hände gebeugt und lauschten auf die Worte von Domherr Michael, der statt des toten Nikolaus inmitten eines Meeres von Priestern, Vikaren und Kaplänen die Messe las. Die Geistlichen trugen alle Messgewänder in grünen Farben, denn offenbar wollte man den Eindruck vermeiden, bereits einen Totengottesdienst zu feiern. Der würde in drei Tagen an Mariä Himmelfahrt folgen, denn es gab zu viele Menschen zu betrauern, als dass man ständig Totenmessen lesen konnte.
Der letzte Tag war schwer für Marike gewesen. Der schlimme Zustand von Lyseke hatte sie aus der Fassung gebracht, und zu Hause hatte ihr Vater die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Sie hatte dem Vater erklärt, wie krank Lyseke war, doch sehr viel mehr hatte sie nicht herausbekommen. Nur der kleine Felix hatte ihr geholfen, nicht völlig zu verzweifeln, denn in ihm hatte sie jemanden, für den sie stark sein konnte. Der Vater war nicht glücklich darüber gewesen, dass sie in diesen Pestzeiten noch einen weiteren Streuner aufgegriffen hatte, wie er sich ausdrückte. Doch trotzdem hatte er den Jungen zu dem alten Willem in den Wohnkeller gelassen – ohne Miete und ohne Wenn und Aber. Mildtätigkeit sei Christenpflicht, hatte er gesagt, und damit das Thema beendet. Im Haus aber hatte er den Jungen nicht haben wollen. Die Magd Alheyd war selbst über diesen kleinen Gnadenakt geradezu entsetzt gewesen. »’s wird uns alle umbring’n!«, hatte sie gewimmert und gebettelt, man möge den Jungen wegschicken. Doch Marike war eisern geblieben.
Nun schickte die junge Frau ein inniges Gebet für Lyseke und Felix’ Vater an die Jungfrau Maria und die Pestheilige Gertrud. »Sprecht zum Herren für ihre Seelen, ihr heiligen Frauen!« Und spezieller für die Freundin: »Ihr wisst, was es heißt, im Leben zu leiden. Ich bitt euch, lasst Lyseke nicht auch im Tod noch leiden, sondern führt sie zu den Engeln Gottes.«
Marike verharrte noch eine Weile im Gebet, bevor sie aufsah. Es herrschte eine so friedliche und innige Atmosphäre in der Basilika, dass sie ganz erstaunt die Gesichter der wenigen Menschen musterte, die gekommen waren. In ihnen waren zwar Furcht und Verunsicherung zu lesen, doch Marike schien es, als richteten die Menschen ihre Blicke in neuer Inbrunst auf den Altar und die Heiligenbilder auf dem steinernen Lettner. Sie gingen demütiger auf die Knie. Und sie sprachen das dreifache Schuldbekenntnis ernsthafter, weniger formelhaft, als käme es jetzt zum ersten Mal von Herzen. Im hinteren Bereich hatte sich eine Gruppe in Nesselgewändern eingefunden, die sich geißelte und deren »mea culpa« die Gebete der anderen übertönte. Obwohl die sicher vierzig Priester, Vikare und Kaplane sich in den Bereich des Hochaltars hinter den Lettner zurückgezogen hatten, um die Wandlung von Wein und Brot zum Blut und Leib Christi zu vollziehen, verharrte die Gemeinde in andächtiger Stille und verfolgte die Zeremonien hinter der Altarschranke genau. Schließlich, beim Agnus Dei, »erbarme dich unser« und »gib uns Frieden«, konnte Marike die Hingabe der Menschen an Gott beinahe fühlen, so ergriffen lauschten sie den Worten. Eine solche Atmosphäre kannte Marike aus der Messe nicht. Sonst war es stets heilig und würdig, sicher auch hingebungsvoll und
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