Das Mädchen und der Schwarze Tod
Hand.
In seiner Bude angekommen, rumpelte er durch seine Habseligkeiten und Farbtöpfe, bis er gefunden hatte, was er suchte. Sievert hob seinen Kopf von der Schlafstatt auf dem Boden, geweckt durch den Krach. Doch er zog schnell wieder den Kopf ein, als er sah, dass Bernt Notke einen langen Dolch unter ein paar Leinwänden hervorgezogen hatte.
DER HANDWERKER
Die drei Klosterglocken riefen die Gläubigen zur Vigil, als der Zimmermann Hartmann von der Arbeit nach Hause stapfte. Die Schüsselbuden und die Marienkirche lagen dunkel da, wie es sich für Mitternacht geziemte. An der Nordtür der Kirche bellten die Wachhunde, als sei der Teufel in sie gefahren. Hartmann schleppte das übrige Holz selbst nach Hause. Das hatte er seit seiner Meisterprüfung nicht mehr getan, denn sein Geselle war heute nicht zur Arbeit erschienen. Hartmann beschwerte sich nicht. Tatsächlich war er sogar gut gelaunt, denn er hatte heute endlich wieder einen Auftrag erhalten – auch wenn der erst spät gekommen war und er Agatha und die Mädchen zu Hause hatte allein lassen müssen.
Der Zimmermann hatte im Hause Wittik die Fenster und die Hoftür zugenagelt. Zugenagelte Fenster waren ein Zeichen dafür, dass die Wittiks die Stadt fliehen wollten. Und zwar bald. Inzwischen gab es etliche leer stehende Häuser wohlhabender oder gar reicher Familien. Hartmann selbst hatte ein paar davon gesichert und sich alle Mühe gegeben, dass Plünderer es so schwer wie möglich hätten, an das Hab und Gut der Geflohenen zu kommen.
Der Zimmermann strich sich über den zotteligen Bart und zog den Hut tiefer ins Gesicht. Er sollte nicht so viel ans Essen denken, da knurrte ihm nur der Magen. Sicher, seine liebe verschrobene Agatha gab ihm immer einen Schlag Essen mehr in die Schüssel als sich selbst. Ihre Portion und die der Mädchen schrumpften täglich. Der Hunger hatte sie hart werden lassen. Als er versucht hatte, heimlich etwas davon an das kleine Mariechen abzutreten, da hatte Agathe ihn und das Kind mit der Haube vertrimmt. Die Striemen spürte er immer noch, auch wenn sie längst verheilt waren. »Iss, Mann! Wer soll uns ernähren, wenn du vom Fleische fällst?« Doch dem stillen Hartmann blutete jeden einzelnen Tag das Herz, wenn er seine fünf Mädchen wie Orgelpfeifen am Abendtische aufgereiht sah und in ihre großen hungrigen Augen blicken musste, während er den Löwenanteil des Essens verschlang. Doch heute gab es keinen Grund zur Sorge. Die Kinder würden endlich wieder satt werden. Heute hatte er Geld bekommen, und das war schon beinahe ein Grund zum Feiern. Natürlich brauchte er mehr Aufträge. Doch in unsicheren Zeiten hielten die Leute ihr Geld beisammen. Und die ganze Stadt lag seit dem Ausbruch der Pest in Lähmung und Starre.
Agathe räucherte ständig das Haus aus. Sie ging nur noch zum Brunnen und zum Markt und hielt sich nirgendwo auf. Sie ließ die Kinder seit beinahe zwei Wochen nicht vor die Tür. Hartmann selbst schlief bei dem Gesellen in der Werkstatt, einer kleinen Bude nahebei, denn sie wollten nicht riskieren, dass er die Pest unter ihr Dach trug. So blieb ihnen nur die tägliche Mahlzeit, kaum eine Stunde am Tag, um zu reden und zu lachen. Denn lachen konnten sie noch. Er würde sein Leben dafür geben, dass das so blieb.
Hartmann zog sich den Ärmel seines Kittels über die Nase und wischte den Schnodder ab, als er die Tür zu seiner Bude aufstieß. Er legte sein Werkzeug und die Latten im Hauptraum ab und ging zur Dornse der kleinen Werkstatt, um seinen Bierkrug zu holen. Er hatte Zeit und Bier. Alles war gut.
Der Schlag an der Schwelle der Dornse traf ihn völlig unvorbereitet direkt auf die Nase. Die platzte auf, und Blut floss ihm über Mund und Kinn. Hartmann fiel hintüber wie ein nasser Sack. Er hatte noch nicht begriffen, was geschah, da spürte er einen kurzen Schmerz an der Stirn. Jemand bestreute ihn mit Erdkrumen, eine polternde Stimme segnete ihn mit fremdartigen Versen in einer Sprache, die er nicht verstand. Hartmann schüttelte den Kopf, um die Sterne vor seinen Augen zu vertreiben und wieder klare Gedanken zu fassen. Als er wieder etwas sah, fiel sein Blick auf Feuer. Bis er sich hustend auf die Knie aufgerappelt hatte, stand die vordere Wand in Flammen. Der Brand fraß sich gierig durch Holz und Späne, die in der Werkstatt lagen, doch der Mann wusste, dass kein Feuer der Welt sich ohne Hilfe so schnell ausbreitete. Über dem Rauch roch er Laternenöl. Er blinzelte in das blakende Flackern und
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