Das Mädchen und der Schwarze Tod
Notke hielt inne, denn Marikes Reaktion traf ihn unvorbereitet. Ihre blassen Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, das doch ihre Augen kaum erreichte. »Jungfer?«, fragte er verwirrt.
»Macht Euch keine Sorgen um Anton Oldesloe«, sprach sie leise. »Er wird Euch nicht mehr behelligen. Mein Vater wollte Euch Bescheid geben. Hat Euch die Nachricht nicht erreicht?«
»Bescheid? Mir? Nein«, stotterte der Maler. »Was … was ist denn geschehen? Der Mann lässt sich doch sonst nicht einmal von einem Ochsengespann zurückhalten, wenn er seinen Kopf durchsetzen will.«
»Anton Oldesloe ist tot.«
Erstaunt öffnete und schloss Notke den Mund. Er konnte keine Trauer in sich spüren, der Ratsherr hatte zu viel Böses getan. Doch die Nachricht kam so plötzlich! »Seit wann?«
»Seit gestern.«
»Wie?«
Marike erzählte ihm die Geschichte, wie Lyseke ihr das Leben gerettet hatte, indem sie den Vater getötet hatte.
»Ihr habt es also gesehen?«, fragte der Maler. Sie nickte. »Und Ihr habt sie nicht davon abgehalten?« Da schüttelte sie den Kopf.
»Ich hätte es beinahe selbst getan«, flüsterte sie mit harten Augen.
Der Maler schluckte schwer. War das noch seine Marike? Die Marike, die sich mit so viel Herz und Leidenschaft für das Leben eines anderen eingesetzt hatte, den sie kaum kannte? Die vom Leben selbst so viel hielt, dass sie ihr eigenes Heil dafür riskierte?
Notke musste diese Erkenntnis erst einmal verdauen. Er legte sein Paket auf die Truhe, stand auf und ging hin und her. »Hat er Euch berichtet, warum er das getan hat?«, fragte er schließlich. Marike nickte. Die stockend vorgetragene Geschichte von einem Gott der Wenden, der von der Stadt ferngehalten werden sollte, richtete Notke sämtliche Haare auf. Mehr noch aber beunruhigte ihn, dass Oldesloe ihn selbst zu einem Teil dieses Kultes gemacht hatte. Wieder regte sich Übelkeit in seinem Magen. Wie sollte er seine Seele jemals wieder von diesem Makel reinwaschen?
»Nun ist der Bastard endlich tot«, schloss sie ihren Bericht mit hasserfüllter Stimme. Bei ihrem Tonfall blutete Notke das Herz.
»Heute Nacht ist aber noch ein letztes Verbrechen begangen worden«, verkündete er. »Ein Bauer ist gestorben, der wieder einen solchen Splitter auf der Stirn hatte«, meinte er. »Der Bauer ist nach dem Klausner der Nächste in der Folge, und den Klausner kann man leicht übersehen -«, Notke hielt inne, denn Marikes Gesicht war grau vor Trauer geworden.
»Jungfer Marike? Geht es Euch nicht gut?«
»Der Klausner starb gestern«, murmelte sie erstickt. »Der alte Willem. Oldesloes letzte Untat.«
»Oh.« Der Alte schien ihr etwas bedeutet zu haben. »Das tut mir leid.« Wieder verspürte Notke den Drang, das Mädchen in seine Arme zu schließen, um alle Trauer fortzuwischen. Doch er hielt sich zurück, denn gleichzeitig rief er sich das Gesicht des Alten für sein Bild ins Gedächtnis. Er verfluchte seine Besessenheit und versuchte, sich auf die Fakten zu konzentrieren. »Aber ich glaube tatsächlich, dass der Bauer, der heute Morgen gefunden wurde, auf dieselbe Art markiert worden ist wie die anderen.«
Marike schüttelte den Kopf. »Ihr versteht nicht«, sagte sie mit leichtem Missfallen in der Stimme. »Lynow und Pater Nikolaus sind tot. Oldesloe ebenso. Es ist vorbei.«
Notke stand wieder auf und ging nachdenklich auf und ab. »Und wer hat damals den Küster getötet?«
Sie sah irritiert auf. »Wie meint Ihr das, Herr Notke?«
»Erinnert Euch. Die Glocke schlug zweimal zu unrechter Zeit, weil er sich ans Seil gebunden hatte, sagen die Leute. Wir beide wissen, dass er sich nicht selbst getötet hat.« Marike nickte. »Doch als die Glocke geschlagen hat, waren wir beide in Oldesloes Haus – Ihr seid schließlich zu Lyseke hochgegangen. Ihr Vater war die ganze Zeit anwesend.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
Notke blieb stehen. Sie wollte nicht verstehen. »Pater Nikolaus war damals bereits tot, und Lynow lag im Sankt-Gertrud-Hospital. Wenn es also nicht Oldesloe war – wer hat dann den Küster umgebracht?«
»Ich schätze … ich schätze, das wird dann wohl der Pfeifer gewesen sein.«
Den Flötenspieler hatte Notke in seiner Rechnung außer Acht gelassen. Anhand der Tatsache, dass auch er das Zeichen des heidnischen Gottes trug, war es gut möglich, dass er der dritte Mann war. Dem sollte man endlich einmal auf den Grund gehen. »Seid Ihr sicher?«
Marike zögerte. »Wenn, dann ist er sehr schlau. Es gibt kaum etwas, das auf
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