Das Mädchen und der Schwarze Tod
Todesfälle …«
Marikes Augen wurden feucht. Sie wollte die Hand auf Notkes Arm legen, wollte ihn sagen hören, dass er ihr keine Schuld daran gab – doch er schlug ihre Finger weg, bevor sie den Ärmelstoff auch nur berührte. Er starrte sie an. »Warum habt Ihr das nicht gesehen?«, knurrte er anklagend. »Sievert könnte noch am Leben sein, wenn Ihr Eure verdammten Augen geöffnet hättet, anstatt Hirngespinsten nachzuhängen!« Seine Stimme brach. »Wie konntet Ihr das übersehen?«
Ja, wie konnte sie? Wie hatte sie übersehen können, dass ihr Vater kaltblütig den Tod so vieler Menschen verursacht hatte? Die Schuld raubte ihr den Atem und fegte ihre mühsam aufgebaute Kontrolle beiseite. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, und sie konnte nichts dagegen tun. Wie hatte sie so blind sein können?
»Er …«, schluchzte sie schließlich, »er ist mein Vater!« Sie wollte noch mehr sagen – dass es ihr leidtat, dass sie so gerne die Zeit zurückdrehen würde, dass sie verstand, wenn er sie nun hasste -, doch sie bekam kein Wort mehr heraus. Das Prasseln des Regens füllte das Schweigen, und ein Blitz erhellte die Nacht.
Als sie Arme um ihre Schultern fühlte, schrak sie zusammen. Er strich ihr beruhigend über den Rücken und drückte sie sanft an sich. Notke hielt sie nur fest. Sie wollte weinen und spürte die Flut der Tränen hinter ihren Augen und in ihrer Kehle. Doch alles, was sich ihr entrang, war ein keuchendes Schluchzen, das ihr Erleichterung verschaffte. Sie biss sich auf die Lippen und hielt sich an ihm fest, und irgendwann ebbte die Trauer langsam ab. Seine Berührung tat so gut. In ihren Eingeweiden schmolz ein Eisblock, der sie schon lange hatte frösteln lassen. Jetzt, langsam, wurde ihr wieder warm. Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Ich dachte, Ihr würdet mich hassen«, murmelte sie leise.
Er betrachtete sie lange mit zärtlichem Blick, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann lächelte er schief. »Natürlich hasse ich Euch«, murmelte er leise. »Ihr habt meinen Paternoster gestohlen. Das vergibt man nicht so leicht.« Dann wurde er wieder ernst. Marike spürte, dass seine feuchten Ärmel ihr Hemd durchweichten.
»Ihr tragt keine Schuld daran – zumindest nicht mehr als ich auch. Wir hatten beide keinen Zweifel. Und seinen eigenen Vater einer solchen Tat zu verdächtigen …« Er verstummte. Dann strich er ihr über das Haar. »Seid Ihr deshalb geflohen?« Sie nickte, doch sie mochte ihren Kopf nicht aus seiner Halsbeuge erheben.
»Euch hätten schlimmste Dinge passieren können.«
»Ich konnte dort nicht bleiben.«
»Das verstehe ich.« Dann lächelte er. »Euer Vater hat die Neigung, Menschen aus dem Haus zu jagen.« Das brachte auch Marike zum Schmunzeln, obwohl Notkes Rauswurf alles andere als lustig gewesen war. »Auch das tut mir leid. Ich glaube...«, sie hielt inne und dachte nach. »Ich weiß inzwischen, dass das nichts mit Euch zu tun hat, Bernt. Vater will mich nicht gehen lassen. Er hat schon so viele Menschen beweint. Meine Brüder, meine Mutter … Die Pest hat damals sein Leben zerstört.«
»Er will Euch nicht verlieren«, nickte Notke. Sein Ton verriet, dass er dasselbe empfand. »Aber hat er Euch gefragt, ob Ihr bleiben wollt?«
Marike schüttelte den Kopf und schluckte. »Nein, das hat er nie.« Die Angst vor der Zukunft wallte wieder in ihr auf und schüttelte sie durch. Sie wusste nicht, was aus ihr werden würde. Sie wusste nur, dass in der Dornse ihres Vaters ihr Leben zerbrochen war.
Notke hielt sie mit gerunzelter Stirn nass und frierend im Arm. Als sie den Kopf hob, blickte er ihr in die Augen. Die Verehrung, die darin geschrieben stand, ja die Liebe, das Vertrauen und die Sorge um ihr Wohl ließen Marike für einen Augenblick den Atem anhalten. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen, denn sie fühlte sich zum ersten Mal frei und ungebunden von den Regeln einer verlogenen Gesellschaft, die nicht mehr die ihre war.
»Vergangenheit, Zukunft …«, murmelte sie mehr zu sich als zu ihm. »Das ist alles nicht wichtig. Wichtig ist nur der Augenblick.«
Das Holz im Kamin knackte wohlig, als wolle dieses kleine Feuer das Wüten des Sturmes draußen wettmachen. Marike lehnte sich zu Bernt hinüber und küsste ihn vorsichtig. Seine Lippen erwiderten den Kuss, bevor er sich von ihr löste und sie erstaunt ansah. Doch Marike schloss die Augen und zog ihn wieder heran. Seine Lippen waren so weich und gleichzeitig so fest, dass sie darin ertrinken
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