Das Mädchen und der Schwarze Tod
und wird sein letztes Opfer holen! Und dann ist geglückt, was niemand zu hoffen wagte. Lübeck wird sicher sein vor Pest und Krankheit, Tod und Verderben! Niemand wird mehr sterben müssen! Marike, verstehst du denn nicht? Wir haben so viel erreicht, und nur noch dieses eine Opfer ist vonnöten, dann wird er uns niemals wieder etwas anhaben können! Alles wird wie früher werden! Alles wird wieder gut!«
Marike schüttelte den Kopf. »Nichts wird wieder sein wie früher, Vater.« Sie blickte hinüber zu der schwarzen Gestalt. Die zog nun mit einer fließenden Bewegung die Robe vom Körper und warf sie achtlos beiseite. Darunter kam der Flötenspieler zum Vorschein, der noch immer sein verschlissenes Wams trug und sein verschwitztes Zottelhaar schüttelte. Er konnte sich ein breites, wölfisches Grinsen nicht verkneifen.
»Nein! Das kann – das kann nicht …«, stotterte Johannes Pertzeval. »Das kann nicht sein, du bist – du bist der Tod, das bist du doch! Eben warst du es noch! Du bist Veles, der Tod! So haben die Schriften es gesagt!«
Doch der Pfeifer ignorierte den alten Mann und sah zu Marike herüber. Dann trat er vor, hob das Buch aus Holztafeln und schmetterte es mit aller Wucht auf die Grabplatten im Boden, sodass es in viele Teile zerbrach. Johannes Pertzeval stand nur da, den Mund offen vor Erschrecken.
»Lass uns gehen«, bat Marike den Maler. Der nickte und führte sie zurück in Richtung der Totentanzkapelle. Sie fühlte sich frei, fühlte eine Ruhe im Gemüt, die sie so lange hatte vermissen müssen. Sie wusste nicht, was nun vor ihr lag. Die Zukunft war ungewiss. Doch sie freute sich trotzdem darauf, sie zu entdecken.
Schon nach ein paar Schritten hielt sie inne und wandte sich noch einmal um. Ihr Vater stand am Messaltar vor dem Lettner und starrte noch immer auf die Bruchstücke des Holzbuches und den Tod, der keiner war.
»Vater«, rief sie leise. Johannes Pertzeval sah zu ihr herüber. In seinen Augen stand der Wahnsinn. Doch sie wollte vergessen, was er in den letzten Wochen getan hatte. Sie wollte ihn in Erinnerung behalten, wie er früher gewesen war, liebevoll und beschützend.
»Wir sehen uns im Winterland«, sprach sie, bevor der Knoten in ihrer Kehle ihr die Stimme abschnitt. Dann wandte sie sich um und ging mit Bernt Notke aus der Marienkirche, vorbei an dem Totentanz, der so viel Leid verursacht hatte.
Als die schwere Holztür der Kirche hinter ihr zuschlug, fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben, als habe sie eine schwere Last abgestreift. Lyseke hatte unrecht gehabt: Man konnte ein neuer Mensch werden, wenn man nur die Kraft dazu besaß. Ihre Hand schlüpfte in die von Notke und drückte sie kurz. Jetzt konnte das Leben beginnen.
Epilog
E in Jahr ist schnell vergangen. Doch Marike fand, dass noch nie eines schneller verflogen war als dieses. Heute hatte Bernt Notke den letzten Strich an seinem Totentanz getan und das Datum darauf verewigt: den Vorabend von Mariä Himmelfahrt im Jahr des Herrn 1466. Nicht, dass Bernt ein ganzes Jahr für die restlichen Arbeiten gebraucht hätte. Er hatte sich Zeit gelassen, denn irgendwie hatten sie beide gespürt, dass der Abschluss des Bildes auch einen Wendepunkt für sie selbst darstellte.
Auf dem Spruchband unter dem Figurenzyklus standen nun mit eleganten Buchstaben Verse geschrieben, die Marike mit dem Pfeifer zusammen entworfen hatte und die demselben magischen Rhythmus folgten wie die Sprüche des Schauspiels im Rovershagen. Sie würden den Totentanz zieren, so lange das Gemälde bestand. Sie mahnten den Gläubigen zur Einkehr und riefen: Übernimm Verantwortung für dein Tun. Lebe ein Leben, für das du dich nicht schämen musst. Lebe, solange du kannst, damit du im Tode nichts bereust. Denn sterben müssen wir alle irgendwann.
Marike ließ die Finger über das Gemälde gleiten und lächelte versonnen. Sie hatte das Bild, das sie anfangs doch so gefürchtet hatte, inzwischen lieben gelernt. Es bewahrte das Angedenken an all die lieben Menschen, die sie verloren hatte. Gleichzeitig stellte es ein Zeugnis des letzten Jahres dar, das Bernt und sie miteinander verbracht hatten. Doch vor allem zeigte es neben all dem Schrecken doch die verletzlichste Seite der Menschen: ihre Angst vor dem Tod.
Trotzdem war sie froh, dass Notke noch kleine Veränderungen vorgenommen hatte. Er wollte ganz sichergehen, dass der Bann der Pestbruderschaft gebrochen war und das Ritual der drei Blasiusbrüder keine Wirkung zeigen würde. Es durfte
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