Das Mädchen und der Schwarze Tod
sofort, als der Rahmen der letzten Leinwand gegen die niedrige Tür in der Wand der Nordervorhalle der Marienkirche polterte. »Habt doch Obacht! Die Lübecker würden es bestimmt als schlechtes Omen nehmen, wenn ihr Totentanz es nicht einmal unversehrt bis in die Kirche schafft!«, unkte Notke.
»Ja, Meister!«, keuchte der junge Knecht Sievert schwitzend. Die langen Gemälde vorsichtig zu bewegen kostete Mühe, und die Hitze kroch ihnen langsam allen unter die Haut. Glücklicherweise war es in der Kirche kühler als draußen.
»Gut so, Sievert, vorsichtig absetzen! Aufhängen werden wir die Rahmen noch nicht. Sichert sie erst einmal so, dass sie stabil auf dem Gerüst stehen, damit die Hunde sie nicht anpissen. Genau so.« Notke hatte ein einfaches Holzgerüst über das Beichtgestühl gebaut, um die mehr als drei Ellen hohen Leinwände bereits jetzt schon in der Kapelle aufstellen zu können. Wie viel einfacher wäre diese Arbeit doch, wenn er bereits jetzt eine anständige Werkstatt zur Verfügung hätte! Ein Raum mit genug Platz zum Aufstellen der mehr als 45 Ellen langen, längs dreiteiligen Leinwand, statt in der Enge seiner Bude immer Stückwerk aneinanderreihen zu müssen. Dazu vier oder fünf Gesellen und Lehrlinge, die gleichzeitig arbeiten konnten … Bernt Notke klemmte eine Latte als Schranke zwischen zwei Säulen, um die Nordervorhalle mit dem Totentanz vom nördlichen Schiff der Marienkirche abzutrennen, und dachte mit respektvollem Neid an die Werkstatt seines Meisters Pasquier Grenier in Flandern zurück. Dort hatte man auch solche großformatigen Arbeiten wie diese leicht angehen können. Seine Verhältnisse kamen ihm dagegen arg bescheiden vor.
Trotz seiner mangelhaften Ausstattung hatte man ihn durch die Fürsprache seines Gönners Anton Oldesloe angeworben. Im Gegensatz zu seinem Lübecker Konkurrenten Hermen Rode hatte er den Totentanzfries in Paris gesehen und wusste, was der zahlende Kirchenvorstand von Sankt Marien, neben Stadtrat Anton Oldesloe namentlich der Bürgermeister Bertold Wittik und der verantwortliche Domherr Pater Nikolaus, erwarteten.
Einen Prediger zu Beginn sollte es nicht geben, der Tod sollte vorantanzen. Das Bild des Kaufmanns sollte im Osten, der Richtung des Altars, aufgehängt sein. Insgesamt sollten die in Lübeck vertretenen Stände der Stadt entsprechend gewandet sein und so lebensgetreu wie möglich erscheinen. Bei den übrigen Figuren hatte Notke recht freie Hand. Insgesamt gab es nur eine wichtige Bedingung: »Grandios soll es sein!«, hatte Anton Oldesloe freundschaftlich gepoltert. »Nichts weniger als grandios! Lübeck in all seiner Pracht und Größe!«
Und tatsächlich war der Teil, der »Lübeck in all seiner Pracht« darstellte, besonders gelungen, wie Notke befand. Er hatte sich die Freiheit genommen, nicht nur den Tanz der Toten darzustellen, sondern diesen Tanz vor der Kulisse der Stadt Lübeck stattfinden zu lassen – ein Geniestreich, wie er fand. Dies würde einen viel eindringlicheren Bezug des Betrachters zum Tod auslösen und gab Notke die Möglichkeit, die großartige Stadt den Wünschen seiner Auftraggeber gemäß prachtvoll darzustellen.
Vor dieser Stadtansicht mit ihren sieben Kirchtürmen tanzte die Reihe der Ständefiguren jeweils abwechselnd mit dem Tod, dargestellt durch Hautskelette, die sich in dem Reigen zwischen die Sterbenden mischten. Die höchsten Vertreter der Gesellschaft nahmen auch im Totentanz die ersten Plätze ein, angefangen mit dem Papst und dem Kaiser über Kaiserin, Kardinal, König, Bischof, Abt und Ritter. Danach folgten das Bürgertum und die Vertreter der lokalen Geistlichkeit, wie etwa der Bürgermeister, der Kaplan und der Arzt vor vielen Vertretern von Kaufmannschaft, Handwerk und niederem geistlichen Stande. Den Abschluss bildeten als Darstellung der niederen Stände und der Menschenalter der Klausner, der Bauer, der Jüngling, die Jungfrau und das Kind.
Alles in allem sollte dieser Auftrag Notke keine Schwierigkeiten bereiten. Er hatte bereits Altarbilder, Mariendarstellungen und Heilige auf Webleinwänden und Holz angefertigt. Bislang waren seine Werke noch nie bemängelt, sondern stets mit Lob bedacht worden. Die Betrachter schätzten sein Auge fürs Detail und die natürlich fallenden, detailreich ausgearbeiteten Gewänder. Er hatte eben ein Auge für die kleinen Dinge, die einen Menschen besonders ausmachten. Meister Grenier hatte ihm eine glänzende Zukunft prophezeit, als er ihn aus seinen Diensten
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