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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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sieben Siegeln. Doch sie beschloss, sich noch weiter vorzuwagen. »Vielleicht ist er heute gar hier … er ist ein Freund meines Vaters, musst du wissen.«
    Marike fand, dass der Mann nie wölfischer gewirkt hatte als jetzt. Die Augen verengten sich zu Schlitzen, und ein lauernder Ausdruck stand in seine Züge geschrieben.
    »Ich würde es nicht wissen. Ich kenne den Mann nicht«, erwiderte der Pfeifer. Er musterte sie seinerseits.
    Marike zuckte schnell mit den Schultern. »Ist ja auch egal.« Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Stand er vielleicht auch in Verbindung mit Lynow?
    »Folg nun, klein Kindlein in der Wiegen!«, dröhnte da der Tod von der Bühne dazwischen und lieferte Marike eine willkommene Ablenkung. Ein großer Teil des Spiels schien während des Gespräches an ihr vorübergezogen zu sein, denn das Kind war die letzte Figur. Der Tod rief das Wiegenkind in den Reigen, das nun von einigen Schaustellern auf die Bühne gehoben wurde. Bei dem Kind handelte es sich um das zahnlose Mädchen, das ihr vorhin bei den Akrobaten die Mütze ins Gesicht gehalten hatte. Die Kleine starrte in die geräuschlose Menge. Dann öffnete sie den Mund und sprach mit gespenstisch dünnem Stimmchen:
    »O Tod, wie soll ich das versteh’n, ich soll tanzen und kann nicht geh’n? Wie magst du deinen Ruf anheben, dass ich soll sterben vor meinem Leben, abscheiden, eh’ ich angekommen, eh’ denn gegeben, werden genommen? Wie weinet meine Mutter so sehr! O gib mich der Erden wieder her!«
    Marike fühlte einen Knoten im Halse wachsen. Der Ton des Mädchens war so unschuldig, staunend und verständnislos für das, was mit ihm geschah, dass es der Kaufmannstochter beinahe die Tränen in die Augen trieb. Dem Rest des Publikums ging es offenbar ähnlich, denn die erwartungsvolle Stille auf dem Platz war bei allen spürbar. Die Erwiderung des Todes fiel zum ersten Mal beinahe zärtlich aus.
    »Gott weiß, warum er mich pfeifen schickt, und wen er ohn’ Sünd’ zu sich entrückt. Gott weiß, weshalb er die Guten und Bösen lässt lang, lässt kurz hie treiben ihr Wesen.«
    Das Wiegenkind sah schräg zu ihm auf und barg das Gesicht in den Händen. Dann öffnete der Tod seinen Umhang und legte ihn sanft um das Kind. Marike spürte Feuchtigkeit über ihre Wange rinnen.
    Dann sah der Tod auf, und sein Ton wurde hart und dumpf. Er blickte über die Anwesenden und sprach zu jedem Einzelnen:
    »Ich pfeif euch zum Frieden, ich pfeif euch zur Qual, ich pfeif euch in Gottes ewigen Saal. Ich pfeife so laut, dass jeder mich hört – Wer ist’s, der sich zu Gotte kehrt?«
    Er breitete die Arme aus und wies mit der Sichel auf das Publikum, das mit betretenen Gesichtern schweigend glotzte. Der wallende Umhang fiel auf, und zum Erstaunen der Zuschauer war das Kind darunter verschwunden. Gebannt wichen die Menschen einen halben Schritt zurück, während der Tod ohne Unterbrechung fortfuhr.
    »Zum Tanz, zum Tanze reiht euch ein: Kaiser, Bischof, Bürger, Bauer, arm und reich und groß und klein, heran zu mir! Hilft keine Trauer. Wohl dem, der rechter Zeit bedacht, viel gute Werk’ vor sich zu bringen, der seiner Sünd’ sich losgemacht – Heut’ heißt’s: Nach meiner Pfeife springen!«
    Und tatsächlich gab dann eine fröhliche Fiedel eine hüpfende Musik vor. Bald fiel eine Handtrommel mit treibendem Rhythmus ein. Erleichterung breitete sich in der Menge aus, und um sie herum begannen die Ersten die Beine zu schwingen und sich zu einem langen Reigen zusammenzufinden. So gebannt die Stimmung eben noch gewesen war, die Leute schienen froh, alles hinter sich lassen und feiern zu können. Doch Marike war nicht nach Tanzen zumute. Obwohl sie genau wusste, dass dort oben nur Figuren gestanden hatten, die für bestimmte Stände oder Altersgruppen standen, hatte sie der Vortrag dieses Mädchens doch so gerührt, dass sie einen Augenblick brauchte, um durchzuatmen.
    »Sie ist gut, nicht wahr?«
    Blinzelnd wandte sich Marike zu dem Flötenspieler um, der mit dem Kopf in Richtung der nun leeren Karrenbühne deutete.
    »Wer?«
    »Janna«, erwiderte er. Auf ihren verständnislosen Blick erläuterte er: »Das Kind.«
    »Ja, sie ist sehr gut«, murmelte sie, denn sie schaute sich flehentlich nach Lyseke um. Doch als sie sie entdeckte, verschwand diese gerade winkend in den Reigen. Was war in die sonst so tugendhafte Freundin gefahren? Hier, wo man sie nicht kannte, scherte sie sich nicht um ihren Ruf und die Sittsamkeit. Marike winkte zurück.

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