Das Mädchen und der Schwarze Tod
der Bilder. Währenddessen sprang der Maler schon hinzu und hob vorsichtig den Rahmen an. Als er ein Loch in der Leinwand quer über die Kaiserin prangen sah, machte sein Herz einen Aussetzer. »Es ist zerstört«, stieß er ungläubig aus. Wie viel Arbeit hatte er in dieses Werk gesteckt!
Hinter sich hörte er einen dumpfen Hieb. »Du dreimal verfluchter, besoffener Narr!« Oldesloe war auf Lynow losgegangen und hatte ihm die Faust in den Bauch gerammt. »Das wirft alles zurück!« Nun griff er sich den Schmied beim Kragen und rammte ihn gegen eine Säule. Der kleinere, aber weit kräftigere Mann hing vornübergebeugt in Oldesloes Griff, trotz seiner Muskeln zu schwach, um sich zu wehren.
»Anton, Freund, lass ab von dem Mann!« Der Priester versuchte, die beiden auseinanderzubringen.
Notke wandte sich wieder seinem Gemälde zu. Er ließ nun selbst vorsichtig und zärtlich die Finger über die Figuren wandern, obwohl er vorhin noch über Sievert gelacht hatte, als er dasselbe getan hatte. Die Farbe war schon trocken gewesen und nichts war verschmiert. So weit, so gut. Er überprüfte das Loch und stellte fest, dass es ganz regelmäßig aussah, wie ein Schnitt. Dann lachte er laut auf. »Oldesloe, guter Mann«, rief er seinem Gönner zu, »tut Euch keinen Zwang an, den Kerl zu verprügeln. Schaden hat er aber glücklicherweise keinen angerichtet.« Der Ratsherr ließ Lynow fahren, der an der Säule auf den Boden glitt, und trat schnell herbei, um das Bild zu begutachten.
»Wie meint Ihr das, Notke? Da ist doch ein Riss drin!«, polterte Oldesloe ungehalten.
Notke schmunzelte. »Nein, Herr. Kein Riss. Eine Naht«, er nahm die saubere Kante hoch und zeigte sie den beiden. »Ich habe keine Leinwände bekommen, die hoch genug und lang genug sind für ein Gemälde, das einem Mann zur Schulter reicht und beinahe so lang ist wie eine Kogge. Also habe ich drei lange Bahnen längs übereinandergenäht.« Notke wies auf die kleinen Löcher, die die Ahle beim Nähen hinterlassen hatte. Einige davon waren ausgerissen, doch der Schaden war gering. »Die Naht ist aufgegangen. Aber sie lässt sich leicht wieder schließen. Natürlich nur, wenn mein Geselle morgen wieder einsatzfähig ist«, schloss er mit einem süffisanten Unterton.
»Das heißt, das Bild ist nicht kaputt? Das ist gut. Gut!« Anton Oldesloe klopfte Notke schmerzhaft auf die Schulter. Der Maler bemitleidete den Schmied Lynow beinahe. Der Ratsherr war nicht nur bullig wie ein Ochse, sondern auch so stark wie einer.
Der Maler erhob sich. Diese Szene hatte zumindest eines sehr deutlich gemacht. »Lynow ist nicht der Kopf dieser Bruderschaft, oder?«
Oldesloe schmunzelte. »Wie kommt Ihr darauf?«
»Wir sind in der Kirche der Ratsherren, dies ist Eure Kapelle, meine Teilnahme war Eure Idee …«, sagte er. »Und außerdem würdet Ihr Lynow dann mit mehr Respekt behandeln«, dachte er bei sich.
»Ihr habt ein gutes Auge, Notke!« Oldesloe grinste. »Wenn Lynow eine solche Bruderschaft einberuft, erregt das weit weniger Aufsehen, als wenn ich das tue.«
»Natürlich«, meinte Notke, doch er dachte sich seinen Teil. Was für einen vernünftigen Grund gab es, mit einer Pestbruderschaft Aufsehen vermeiden zu wollen?
»Das wäre also geregelt!«, polterte Oldesloe. »Wir sehen uns im Ratskeller. Aber nur kurz – ich habe heute noch etwas zu erledigen.« Er half dem Schmied dabei, sich aufzurichten, und untersuchte, ob dieser ernsthaft verletzt war.
»Küster Krontorp kommt sicher bald, um die Hunde freizulassen und abzusperren«, warnte Oldesloe Notke. Dann verließen die drei Lübecker die Marienkirche durch eine der kleineren Türen in der Ostseite.
Damit war der Maler allein. Schnell hastete er zu Sievert hinüber. Die schnelle Überprüfung seines Atems brachte den Gestank von Schnaps und Kräutern hervor. Notke rüttelte ihn, doch der hagere Mann wachte nicht auf. Hier konnte er aber nicht bleiben, schon allein der Hunde wegen, die der Küster nachts in der Kirche laufen ließ, um Diebe abzuschrecken. Also lud Notke sich den langen Kerl auf die Schulter und wankte hinaus ins Freie. Die Sonne war bereits untergegangen und die Nacht empfing ihn.
Notke taumelte den Schrangen hinunter. Dabei ließen ihn all die Neuigkeiten des heutigen Abends nicht los. Dem Ratsherrn Oldesloe schien viel an dem Totentanz gelegen, wenn er rasend vor Wut auf jemanden losging, der das Bild gefährdete. Doch schwerer verdaulich war die Nachricht von der Pest. Er schaute über
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