Das Mädchen und der Schwarze Tod
sich wohl oder übel hinter den Rat stellen müssen, als dieser dem Volk verkündet hatte, dass in Lübeck alles in Ordnung sei. Von Calven hasste sich dafür, unterstützt zu haben, was gegen seine feste innere Überzeugung ging. Auch wenn der alte Bürgermeister keine Beweise besaß, so wusste er doch, dass die Pest nicht mehr fern sein konnte. Zu viele Menschen waren in den letzten Wochen klammheimlich in ihren Buden verschieden, ohne dass dies offiziell aufgefallen wäre – denn die wenigsten von ihnen waren steuerzahlende Bürger der Hansestadt. Doch Wilhelm wusste, dass etwas nicht stimmte, wenn die Zahl der Lastträger immer kleiner wurde, die sommerliche Rattenplage ausblieb und die Leute immer mehr Geld für Messen und Vikarien opferten, weil sie insgeheim spürten, dass Unheil drohte. Und doch wurde die Seuche oft verheimlicht. Vierzehn Tage das Haus nicht verlassen, kein Kirchgang, kein Baden. Das bedeutete keine Arbeit, kein Geld, kein Essen und kein Arzt. Das hieß Hunger und Tod! Gleichzeitig stand man im Verdacht, die Pest durch den eigenen Lebenswandel herbeigerufen zu haben. Das war ein Todesurteil für jeden Handwerker.
Wilhelm von Calven rückte die schwere Bürgermeisterkette gerade, die auf einem Seitenschränkchen lag, und seufzte schwer. Er war in seinem Leben neben seinen Geschäften im Auftrag der Hanse bis Brügge, Kopenhagen und Wismar gereist, hatte mit drei Königen verhandelt und mehr Friedensschlüsse und Handelsrechte vereinbart, als so mancher Kaufmann Schiffe besaß. Doch nun musste er sich in seiner eigenen Heimatstadt von Anton Oldesloes Buhmännern einen Unkenrufer und Schwarzseher nennen lassen, der nicht genug auf Gott baute und das Wohl der Stadt nicht im Auge behielt.
Wilhelm von Calven gewann in letzter Zeit den Eindruck, dass der sonst eher ruppige und kurzsichtige Ratsherr Oldesloe beängstigend weit im Voraus plante. Auf der Sitzung vor der Bursprake hatte sich Wilhelm ausmanövriert gefühlt wie bei einer Partie Schah . Die anderen Bürgermeister, besonders Bertold Wittik, hatten Wilhelm auflaufen lassen. Langsam fürchtete er, dass auch er nichts mehr gegen das Unheil tun konnte.
»Du dummer, alter Narr«, schalt von Calven sich. Der Tag, an dem er müde würde und den Kampf aufgäbe, wäre auch der Tag, an dem man ihm die Letzte Ölung erteilte, so viel war klar. Er bekreuzigte sich vor dem Kruzifix an der Wand und sandte ein Stoßgebet zur Heiligen Jungfrau, bevor er aus der Dornse trat. Von Calven wusste ungefähr, wer für ihn und wer für Wittik und Oldesloe war. Während der Sitzung und der Bursprake hatte er den Eindruck gewonnen, dass es Ratsherren gab, die in keines der Lager gehörten und sich vielleicht mit den richtigen Argumenten umstimmen ließen. Und einer davon war Johannes Pertzeval, ein sehr würdiger und vernünftiger Mann. Sie waren beide im selben Alter und hatten in Lübeck so manch gute wie schlimme Tage durchgemacht. Der kranke Mann galt im Rat als hoch angesehen, da er stets mit viel Kraft voranging und sich selbst mehr abverlangte als allen anderen. Konnte Wilhelm ihn überzeugen, würden andere vielleicht nachziehen. Also hatte er ein Treffen vereinbart.
Wilhelm von Calven schlich sich hinaus, damit sein Weib Kuneke nichts von seiner Abwesenheit bemerkt – sie sollte sich nicht beunruhigen. Als er in der Schildstraße die Haustür hinter sich schloss, schlugen bereits die mitternächtlichen Kirchenglocken. Er ging an Sankt Ägidien vorbei, denn er wollte um diese späte Nachtstunde nicht auf der Königstraße den Bütteln in die Arme laufen. Am Kloster Sankt Johannes entlang kam man auch in die Johannisstraße zu Pertzeval, und dieser Weg wäre unauffälliger und unbelebter. Also ging der Bürgermeister den Balauerfohr hinauf. Von hier aus sah man die hohen Mauern des Klosters der Zisterzienserinnen schon im Dunkeln aufragen.
Die Großstadt Lübeck wirkte in der Nacht still und friedlich. Jedes Geräusch hallte gespenstisch von den Backsteinmauern wider und störte die Ruhe. Doch die alten Knochen ließen Wilhelm eh nicht mehr allzu schnell vorankommen. Ungefähr auf Höhe des neuen Armenhauses in der Straße der Salunenmacher hörte er das Echo seiner Schritte. Leicht versetzt folgte es den seinen – doch mancher Schall kam verdächtig spät. Von Calven hielt inne, lauschte und stierte in die Dunkelheit. Nur gut, dass er keine Laterne mitgenommen hatte. Der zunehmende Mond spendete ausreichend Licht, und so verbarg sich von Calven im
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