Das Mädchen und der Schwarze Tod
wieder säubern.« Die Gestalt tätschelte ihm die Schulter und begann dann, Verse in einer merkwürdigen Sprache vor sich hin zu murmeln.
Der Sterbende spürte, wie er mit Krümeln bestreut und mit einer Flüssigkeit besprenkelt wurde. Dann wurde die Luft in den Lungen so knapp und das verzweifelte Ringen um Atem so schwer, dass dem Mann dunkle Punkte vor den Augen tanzten. Jedes Ringen um Luft fühlte sich an, als läge ihm ein Tonnengewicht auf dem Brustkorb, das er irgendwann nicht mehr würde stemmen können. Die dunklen Punkte vermehrten sich, wuchsen zusammen und blendeten die Welt um Dietrat Pömer aus. Bald schwanden auch die Geräusche und die Schmerzen.
KAPITEL 9
S anft flatterten die Banner der Reichsstadt Lübeck über dem steinernen Galgen, der nördlich der Stadt auf einer Anhöhe, dem Köpfelberg, stand. Ein Schwarm Krähen saß in den nahen Bäumen und murrte mit heiserem Krächzen über die Unterbrechung seines Festschmauses.
Das quadratische flache Gebäude, das wie die meisten anderen in Lübeck aus dunklen Backsteinen bestand, wurde von einer Mauer mit Stufengiebel über dem Portal umrandet. Auf den Ecken erhoben sich vier schlanke Spitztürme, wie sie sich auch auf dem Rathaus fanden. In der Mitte überragte ein fünfter breiterer die anderen wie ein mahnender Zeigefinger. In ihm fand sich die Wendeltreppe zu dem Galgengerüst aus Holzbalken, das um größerer Stabilität willen zwischen zwei der Ecktürme gebaut worden war. Daran würde heute der Mörder des Bischofs Arnold in den obersten Galgen gehängt werden – das hieß größte Schimpf und Schande. Denn noch immer hallte die ganze Stadt von Gerüchten über den Tod des Bischofs wider. Je abstruser die Geschichten, desto faszinierter staunten die Zuhörer über die Schlechtigkeit der Menschen. Nun wollten sie das Ungeheuer verrecken sehen, das ihren guten Bischof getötet hatte.
Bernt Notke wanderte mit Anton Oldesloe hügelanwärts, vorbei an der ehrwürdigen Kapelle Sankt Gertruds und dem Pestfriedhof über das Burgfeld im Norden der Stadt. Geradeaus sah man den Galgen schon von Weitem, rechter Hand die Zelte und Wagen der Fahrenden. Als die Männer sich der Menge näherten, staunte der Maler über die vielen Zuschauer, die Pest und Tod riskierten, um der Hinrichtung beizuwohnen. Die Hinrichtung eines solchen Verbrechers wurde stets wie ein Volksfest gefeiert. Ganze Familien nutzten es als willkommene Ablenkung vom Alltag. Wenn die Spannung stieg, geiferten die Leute so wild darauf hin, die Schurken röcheln und am Strick tanzen zu sehen, dass Notke sich immer fasziniert darüber belustigt hatte.
»Kommt, Notke. Ein Ratsmitglied zu sein hat gewisse Annehmlichkeiten. Eine davon ist ein Ehrenplatz im Ratspavillon. Dort ist es nicht so eng.« Oldesloe führte den Maler durch die Menge zu einer überdachten Bude mit bester Sicht.
»Und Ihr seid sicher, dass wir uns nicht vor der Pest in Acht nehmen müssen?«, fragte Notke beunruhigt.
Die Antwort des Ratsherrn kam nicht sofort. Notke hatte gar den Eindruck, als sei ein düsterer Schatten über Oldesloes Gesicht gehuscht. Doch der Eindruck verflog schnell wieder, und der große Mann lächelte so gewinnend wie immer. »Absolut sicher, Notke, absolut! Und selbst wenn – Ihr wollt Euch doch nicht für die nächsten paar Monate in Eurer Werkstatt einschließen, wie?«
»Nein, das wäre unerfreulich«, erwiderte Notke. Vielleicht hatte der Ratsherr recht, vielleicht war seine Sorge übertrieben. Niemand wusste so genau, wie sich die Pest übertrug. Natürlich sagten die Pfaffen, sie sei Gottes Strafe für die Sünder – und die Folge war, dass die Kirche sich an den Pestzügen eine goldene Nase verdiente, denn jeder wollte spenden und beten, um sich von den Sünden zu reinigen. Italienische Ärzte spekulierten, die schlechte Luft vergifte die Menschen und verursache die Pest wie auch viele andere Krankheiten, sodass man sie mit Kräutergerüchen zu bekämpfen suchte. Andere behaupteten, es sei ein Gift der Juden, das diese in die Städte schmuggeln ließen. Die Erfahrung zeigte, dass Bader und Notare, die in diesen Zeiten viel mit Pestkranken zu tun hatten, besonders gefährdet waren. Aus mysteriösen Gründen starben auch Fleischer und Bäcker oft zuerst. Doch insgesamt konnte die Seuche genauso gut Gottes Wille sein wie das Ergebnis eines Würfelspiels zwischen zwei hämischen Teufeln. Nur eine Regel war gewiss – man machte besser einen Bogen um jene, die schon mit der Pest
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