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Das Mädchen und die Herzogin

Das Mädchen und die Herzogin

Titel: Das Mädchen und die Herzogin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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schlafen. Utz hatte ihnen gehörig das Fell verdroschen, er gab ihnen, als Treibern, wohl eine Mitschuld an diesem Unglück.
    Dabei war es nicht das erste Mal, dass eine herzogliche Jagdgesellschaft ihr Dorf heimgesucht hatte. Schließlich war der wildreiche Schönbuch, wo einem die Hirsche im Rudel begegneten, des Herzogs liebstes Jagdgebiet. Hier verbrachteer Tage und Wochen, bei jedem Wetter, und wer ihm schon begegnet war, schwärmte von seinem freundlichen Wesen gegen den gemeinen Mann. Es war wohl nicht gelogen, dass er hin und wieder mit dem Landvolk scherzte oder gar Proviant oder Münzen verteilte. Quartier bezog der Herzog dann immer im schönen Böblinger Jagdschloss. Dort sollte er sich sogar Löwen halten; einen davon habe er selbst großgezogen. Der durfte in einer Kammer im herzoglichen Schlafgemach nächtigen und bei den Festlichkeiten dabei sein, an einen Eisenring gekettet. Reiste Herzog Ulrich dann wieder ab, tobte der Löwe furchtbar, so erzählte man sich im Dorf.
    Marie hätte alles darum gegeben, einmal einen Löwen aus der Nähe zu sehen. Sie seufzte und fasste ihre Base bei der Schulter. «Schläfst du?»
    Keine Antwort. Da spürte Marie etwas Nasses auf ihrer Hand. Tatsächlich   – Irmels Wangen waren tränenüberströmt.
    «Jesses Maria – was ist mit dir?»
    Irmel schüttelte in der Dunkelheit den Kopf.
    «Nun sag schon – bist du krank? Du warst doch vorhin nochmal bei der Häcklerin?» In ihrer Sorge hatte Marie Mühe zu flüstern. Endlich verstand sie so etwas wie: Es ist alles aus. Damit drehte sich Irmel weg von ihr und gab keinen Laut mehr von sich.
    Da traf es Marie wie ein Blitzschlag: Ihre Base erwartete ein Kind! Herr im Himmel, sie hatte geahnt, was in jener Nacht in Stuttgart geschehen war und es doch nicht wahrhaben wollen. Wie hatte sie nur so blöde sein und Irmels ausweichenden Worten Glauben schenken können? Kein Zweifel, es war in dieser dreckigen, überfüllten Vorstadtschenke geschehen, wo sie Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte zu Dutzenden im Nebenzimmer genächtigt hatten, auf halbfaulem Stroh, Männer wie Frauen, Greise wie Kinder. Der Radauder Volltrunkenen aus dem Schankraum und von den Gassen hatte nicht enden wollen in jener Nacht, hatte sich vermischt mit dem Schnarchen und Gefurze der Schlafenden; von hier und da drangen auch Stöhnen und Wimmern, schließlich, in ihrem Halbschlaf schon, hatte sie gemeint, Irmel kichern zu hören, sie unruhig neben sich hin und her hampeln zu spüren, doch sie war so hundemüde gewesen, bereits auf der Schwelle zum Tiefschlaf, und hatte nicht darauf achten wollen, was sich da tat neben ihr, was sich da in der Dunkelheit zu einem noch dunkleren Berg auftürmte, zu einem grunzenden, nach Schweiß riechenden, schwankenden Koloss. Jetzt aber hatte sie es plötzlich glasklar vor Augen, sie erinnerte sich auch wieder an den unterdrückten Aufschrei von irgendwoher, von Irmel ganz bestimmt, bevor sie selbst in den Abgrund des Schlafs geglitten war.
    Auf Maries unsichere Frage am Morgen danach, was denn da geschehen sei neben ihr in der Finsternis, hatte Irmel damals geschnauzt: «Sind dir Gespenster erschienen? Du warst wohl besoffen!»
    Fortan hatten sie beide nie wieder ein Wort verloren über jene Nacht.
    Jetzt lauschte Marie bangen Herzens in die Finsternis hinein. Das Gemurmel ihres Oheims war einem leisen Schnarchen gewichen, von Irmel hingegen hörte sie nicht mal die Atemzüge, so still und reglos lag sie neben ihr. Was jetzt wohl in ihr vorging? Von einer Welle des Mitleids erfasst, umschlang Marie den fülligen Leib ihrer Base und hielt ihn fest, die ganze Nacht hindurch.
    Am nächsten Morgen war die Bettstatt neben ihr leer. Marie sprang auf.
    «Wo ist Irmel?», fragte sie Lenz, der gerade seinen jüngeren Bruder unsanft aus dem Strohsack zerrte.
    «Weiß ich doch nicht. Die war schon weg, als ich wach wurde.»
    «Und dein Vater?»
    «Das geht dich nix an.» Er grinste ihr frech ins Gesicht.
    «Der Oheim ist nach Böblingen gewandert, zum Vogt.»
    Ihre kleine Schwester war eingetreten, an ihren viel zu dünnen Ärmchen hingen zwei schwere Wassereimer. Rasch nahm Marie sie ihr aus der Hand und goss den Inhalt in den Kessel auf dem Herd.
    «Nach Böblingen?»
    «Er will sich über den Flurschaden beschweren und Entschädigung verlangen. Auch wegen Tante Berthes Verletzungen.»
    «Weißt du, wie es ihr geht?»
    «Besser – so wie sie wieder schelten kann. Irmel ist bei ihr.»
    Marie fiel ein Stein vom Herzen.

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