Das Mädchen und die Herzogin
gemacht.
Dann traten die Gastgeber vor sie: Dietrich Speth und seine Frau, die wesentlich kleiner war als Sabina. Beide erwiesen sie formvollendet ihre Reverenz, und Sabina konnte ihr Auge nicht von Margretha lassen: Nahezu gläsern wirkte ihr Gesicht, an Hals und Schläfen zeichnete sich das Geflecht feinster Äderchen unter der zarten blassen Haut ab, zu der das hochgesteckte dunkle Haar in starkem Kontrast stand. Und wie schmal ihre Handgelenke waren, wie zerbrechlich ihre Statur wirkte! Sabina konnte es kaum fassen, dass diese Frau fünf Geburten hinter sich haben sollte. Zwei der Kinder hatten die ersten Monate allerdings nicht überlebt.
Scheu blickte die Edelfrau zu ihr auf, und Sabina fühlte mehr und mehr eine unbestimmte Befangenheit in sich aufsteigen. Zumal sie Dietrichs Blicke so deutlich spürte, alsstrichen sie geradewegs über ihr Gesicht. So lange schon waren sie sich nicht mehr begegnet – eigentlich nie wieder seit seiner tröstlichen, ganz und gar unschicklichen Umarmung damals. Einmal nur hatte sie ihn von weitem gesehen, wie er in die herzogliche Canzlei geeilt war, und sie hatte getan, als bemerke sie ihn nicht.
Dietrich winkte zwei Knaben heran, die sich höflich verneigten.
«Ulrich und Wolf», erklärte er, an Sabina gewandt. «Unsere kleine Catharina werdet Ihr nach dem Essen kennenlernen, sie ist noch in der Obhut der Saugamme.»
Der Ältere, der elf oder zwölf Jahre zählte, war ein Abbild seines Vaters. Während sein kleiner Bruder sich eng an die Mutter drängte, trat er auf Herzog Ulrich zu. Der schloss sein Patenkind überraschend freudig in die Arme.
«Ein prächtiger Bursche bist du geworden seit unserem letzten Wiedersehen. Was machen die Schieß- und Reitkünste?»
Der junge Ulrich lachte stolz: «Mit der Hakenbüchse kann ich schon umgehen.»
«Fein!» Ulrich klopfte ihm auf die Schulter. Wie herzlich er sein kann, dachte Sabina. Dann bemerkte sie, wie Ulrichs Blick zum oberen Ende der Tafel schweifte und ihm mit einem Mal eine leichte Röte über die Wangen fuhr: Dort hinten stand Ursula Thumbin, an Hans von Huttens Seite, die den Herzog mit einem hinreißenden Lächeln anstrahlte.
Auch Dietrich Speth schien diesen Blickwechsel bemerkt zu haben. Er räusperte sich.
«Gehen wir zu Tisch. Euer Fürstlich Gnaden haben den Ehrenplatz in der Mitte. Ist Euch nicht wohl, Herrin?»
Sabina spürte, wie ihr der Boden unter den Füßen zu schwanken begann. Sie sah noch ihren Gemahl, der sie ärgerlichanblickte, hörte noch das glockenhelle Lachen der Thumbin, das in ihren Ohren wie Hohngelächter klang, spürte Dietrichs Hand nach der ihren greifen – dann stolperte sie gegen Dietrichs Brust und versank in einem endlosen dunklen Abgrund.
10
Zäh wie Leimbrühe zog sich die Christmette hin, der Pfarrer fand mit seiner lateinischen Litanei zu keinem Ende. Marie war inzwischen speiübel, vor Hunger und von den Weihrauchschwaden, die durch die kleine Dorfkirche waberten. Sie stand mitten im Gedränge, spürte, wie die Kälte ihre Glieder klamm werden ließ, und wartete ungeduldig auf die Gabenbereitung.
«Ich hab Hunger», flüsterte Nele neben ihr.
«Ich auch.»
Dabei wusste sie, dass sie auch in dieser Nacht hungrig zu Bett gehen würden. Und dass ihre Muhme für das Weihnachtsfest etwas Besonderes aufgespart hatte, wagte sie kaum zu hoffen.
Als sie endlich unter des Pfarrers Segen in die mondhelle Nacht entlassen wurden, sammelten sich die Kirchgänger in kleinen Gruppen auf dem Vorplatz. Nur zu den Schechtelins gesellte sich niemand – sie wurden seit Irmels Freitod noch mehr gemieden als zuvor schon. Marie schickte ihre kleine Schwester weg. «Geh zu den anderen. Sag ihnen, ich komme später nach.»
Sie wusste, dass das Ärger geben würde, unter Umständen gar in Form einer Tracht Prügel seitens ihrer blindwütigenMuhme, aber das war ihr einerlei. Sie wandte sich um und eilte am Kirchhof vorbei die Gasse hinunter. Als sie den Dorfrand erreichte, schlug sie den schmalen Pfad zur Abdeckerei ein. Sie musste sich zwingen weiterzugehen. Kein Mensch suchte freiwillig den stinkenden Hof der Abdeckerei auf, schon gar nicht bei Dunkelheit. Doch sie würde keinen Schlaf finden, wenn sie in dieser heiligen Nacht nicht für das Seelenheil ihrer Base betete. Und zwar an Irmels Grabstätte, das hatte sie sich auferlegt.
Ungeachtet ihrer Angst vor Nachtmahr und wildem Getier schritt sie vorwärts, an dem lang gestreckten Schuppen vorbei, hinaus auf die freie Fläche des
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