Das Mädchen und die Herzogin
zog sie das zerfledderte Stück Seil heraus und warf es weit von sich ins Gebüsch. Von wegen Talisman! Irgendwann war es ihr wie ein Schleier von den Augen gefallen: Dieses Stück stammte vom gleichen Strick, an dem sich Irmel aufgehängt hatte! Ihrer Base mochte er jaKraft gegeben haben, die Kraft, ihrem unglückseligen Leben ein Ende zu setzen. Sie aber wollte mit diesem Teufelszeugs nichts zu tun haben.
Und vielleicht sollte sie ja den Stein von Vitus gleich hinterherwerfen. Das Jahr ging zu Ende, und er war nicht gekommen. Obwohl sie seit Irmels Tod jeden Abend gebetet hatte, mit dem kleinen hellroten Stein in den gefalteten Händen. Hätte sie das nötige Geld gehabt, sie hätte es sogar für die Wahrsagerin ausgegeben, die immer zum Jahrmarkt nach Böblingen kam, nur um zu erfahren, wann sie ihren Freund endlich wiedersehen würde.
Letztendlich aber wusste sie auch ohne Wahrsagerin: Vitus hatte sein Versprechen gebrochen.
Vitus sprach das Tischgebet, dann trug seine ältere Schwester das Festtagsessen auf: eingesäuertes Kraut, dampfend heiß, mit fetten Brocken Schweinefleisch darin. Dazu wartete auf dem Tisch bereits ein großer Hafen honigsüßer Obstbrei.
«Herrlich!»
Der alte Beck sog genießerisch den Duft ein. Dann spießte er sich den größten Brocken auf sein Messer und verkündete endlich: «Greift zu.»
So gierig langten die Mädchen nach den Fleischstücken, dass die Mutter dazwischenfahren musste.
«Finger weg. Vitus zuerst, dann Clara, Margret, Rose. Und lasst mir bittschön auch was übrig.»
Aber Vitus hatte keinen Hunger, obwohl lange schon kein Fleisch mehr auf den Tisch gekommen war. Er musste an Marie denken, die wahrscheinlich jetzt ebenfalls beim Weihnachtsessen saß, traurig oder auch maßlos wütend, weil er dieses Frühjahr nicht zu ihr in den Schönbuch gekommen war. Dabei schmerzte ihn sein Wortbruch selbst am meisten.Seine Eltern hatten das so hingebogen. Gerade als die Tage länger und die Nächte milder geworden waren, hatten sie ihn für fünfzehn Gulden als Lehrknecht ins Nachbardorf verdingt, zu einem reichen Weinbauern, der über zehn Ecken mit dem Vater verwandt war. Drei Jahre mindestens sollte er dort lernen, dann würde er in den eigenen Weinberg zurückkehren dürfen.
Immer wieder und vergebens hatte er seinen Meister gebeten, ihm doch ein einziges Mal nur zwei Tage vor oder nach einem Sonntag freizugeben, damit er zu seinem Mädel wandern könne, so wie jedes Frühjahr. Sie warte auf ihn und könne, da sie in erbärmlichen Verhältnissen lebe, die kleine Unterstützung aus seinem Elternhaus zudem bitter brauchen. Doch der Lehrherr war jedes Mal unerbittlich geblieben. Im ersten Lehrjahr sei es durchaus nicht üblich, dass ein Lehrknecht freibekomme außer an den heiligen Sonntagen.
Voller Wut hatte Vitus sich dann jedes Mal bei seinen Schwestern über die Hartherzigkeit des Meisters beklagt. Er hatte fünf Schwestern, die beiden ältesten waren schon außer Haus, ins Nachbardorf an brave Winzer verheiratet. Dass er keinen Bruder hatte, vermisste er in solchen Situationen schmerzlich.
«Warum lässt er mich nicht ein einziges Mal gehen? Er hat doch sonst keinen Grund zur Klage, und ich würde ohne Murren die Zeit abarbeiten.»
Dann, als er wieder einmal einen Sonntag im Kreis seiner Familie verbrachte, hatte ihm Rose, die Jüngste, unter Flüstern zugesteckt: «Vielleicht ist es gar nicht dein Meister, der dich nicht gehen lässt.»
«Wie meinst du das?»
Da hatte Rose nur die Schultern gezuckt und gegrinst.
Inzwischen wusste er selbst, dass Rose recht hatte. Kurz vorWeihnachten war Hedwig, die Fassbindertochter vom Nachbarhaus, mit ihren Eltern zum Sonntagsessen geladen worden, und schlagartig war ihm klar, dass hier eine Verbindung eingefädelt werde sollte.
«Gefällt dir das Mädchen?», hatte sein Vater ihn anschließend gefragt.
«Nein», war seine Antwort gewesen. Und das stimmte. Hedwig war affig und eingebildet. Die Miene des Vaters hatte sich verfinstert.
«Herr im Himmel, vergiss endlich Marie. Es geht nicht nur um deine Zukunft, sondern um unser aller. Du bist mein einziger Sohn, und ich werde dir mit Freuden meinen Weinberg übergeben, wenn ich dereinst auf dem Sterbebett liege. Doch bis es so weit ist, wirst du auch uns Alte versorgen müssen, und du weißt nicht, wie krank und hinfällig wir im Alter sein werden.» Er räusperte sich. «Das mit Marie und dir, das ist doch längst vergangener Kinderkram. Ich mag Marie, und es schmerzt
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