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Das Mädchen und die Herzogin

Das Mädchen und die Herzogin

Titel: Das Mädchen und die Herzogin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Schindangers. Silbrig glänzten die Grasbüschel im Licht des vollen Mondes, eine Eule rief vom Waldrand herüber. Marie schauderte. Hätte sie doch wenigstens Nele mitgenommen.
    Beherzt sprach sie ein Ave Maria und überquerte dann den Acker bis zu dem schlichten Stein, der Irmels letzte Ruhestätte markierte. Dass ihre Base nicht in geweihter Erde bestattet war, konnte sie verstehen. So verlangte es halt die Kirche bei einer solchen Freveltat. Dass sich indessen niemand um ihr Seelenheil scherte, weder der Pfarrer noch die eigene Mutter, hielt sie für eine nicht minder schreckliche Sünde. So kniete sie nieder auf die vereiste Erde und betete zu Maria, den Engeln und den Heiligen, in der verzweifelten Hoffnung, dass ihrer unglückseligen Base alle Sündhaftigkeit verziehen werden möge, damit auch sie Aufnahme fände in Gottes Himmelreich.
    «Lieber Herrgott», schloss sie ihre Fürbitten, «lass sie nicht länger leiden und büßen für ihre Taten. Lass sie auferstehen und ewig leben in deiner Herrlichkeit. Jesus Maria Amen.»
    Deutlich hörte sie wieder den Schrei der Eule. Ob dieserunheilvolle Ruf ihr galt? Sieben Monate waren seit jenem schrecklichen Unglück vergangen, sieben eintönige, einsame und traurige Monate, in denen kein Tag vergangen war, ohne dass sich Marie Vorwürfe gemacht hätte. Wäre sie nur nicht so feige gewesen, bei jenem Streit auf der Waldweide, wäre sie ihrer Base nachgelaufen – ganz gewiss hätte sie das Schlimmste verhindern können. Und in jener Nacht – hatte das Geheul der Dorfhunde sie da nicht deutlich gewarnt? Voller Unruhe war sie schließlich aufgestanden und vor die Türschwelle getreten und dabei vor Schreck fast umgefallen: Ein knietiefes Loch hatten die Hunde vor ihrer Haustür gegraben, und das bedeutete nichts andres, als dass einer der Hausbewohner vom Tode bedroht war. Spätestens da hätte sie ihre Vettern wecken und mit ihnen auf die Suche gehen müssen. Aber nein, sie hatte nichts dergleichen unternommen, war stattdessen wie gelähmt vor Schreck auf der Schwelle stehengeblieben und irgendwann voller Furcht wieder zu Bett gegangen. Sie allein war Schuld an Irmels Tod! Andererseits – hätte ihre Base mit einem Bankert als Kind je in Frieden leben können? Man hätte ihr die Schandgeige um den Hals gelegt und sie dann aus dem Dorf gejagt, wenn es nicht noch schlimmer gekommen wäre.
    Mit brennenden Augen erhob sich Marie von der Grabstätte und begann zu laufen, als sei der Gottseibeiuns selbst hinter ihr her. Rannte den ganzen Weg zurück, ohne nach rechts und links zu sehen, und schlug sich dabei immer wieder mit der flachen Hand gegen Brust und Gesicht. Als ihre Hütte in Sichtweite kam, blieb sie schluchzend stehen. Wie sie sich plötzlich sehnte nach ihrer Mutter, dieser sanften Frau, die jeden Abend mit ihr und Nele das Gebet gesprochen und sie mit einem Gutenachtkuss dann in den Arm genommen hatte. Warum nur hatte der Herrgott ihrer Familie das allesangetan? Warum hatte er ihren Vater unter das schwere Wagenrad geraten lassen? Alles war damals zusammengekommen: Es hatte heftig geregnet, ihr Vater war mit einer Ladung Stecken für die neuen Reben abgerutscht, den steilen Hang hinunter geradewegs auf die Fahrstraße. Und ausgerechnet in diesem Augenblick war ein Fuhrwerk des Weges gekommen, in rasendem Galopp, dem besoffenen Fuhrmann waren die Pferde durchgegangen.
    Den linken Fuß und das rechte Bein hatte der Chirurgus ihrem Vater abnehmen müssen, und fortan war ihre Mutter ihm nicht mehr von der Seite gewichen, auch nicht, als der Brand in die Wunden geschlagen hatte, bis der Gestank aus dem offenen Fleisch nur noch mit Nasentüchern zu ertragen war und der Fieberwahn dem Vater die Sinne verwirrte. Die Mutter war bei ihm geblieben, bis der Herrgott ihn endlich von seinen Qualen erlöst hatte. Nur drei Wochen später war sie ihm in den Tod gefolgt, indem sie einfach aufgehört hatte zu atmen.
    Marie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Warum musste Gott sie so hart prüfen? Gott prüft die, die er liebt, am meisten, pflegte der alte Pfarrer zu sagen – musste sie also alles klaglos ertragen? Wäre Nele nicht gewesen, für die sie sorgen musste – längst wäre sie davongelaufen aus diesem düsteren Flecken, aus diesem lieblosen Haus, in dem die Hausmutter nichts anderes wusste, als zu schurigeln und zu prügeln, und der Hausvater ein rechter Waschlappen war.
    Sie griff an ihren Beutel unter dem Rock, fühlte Stein und Strick darin. Kurzentschlossen

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