Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
nicht recht glauben, dass Katarischi endlich zu ihr zurückgefunden hatte.
Es dauerte eine Weile, bis ich die Frau neben ihr bemerkte. Sie musterte mich eindringlich, dann nahm sie meine Hände, um sie ganz fest zu drücken. Belustigt über meinen erstaunten Gesichtsausdruck prustete sie los. Das war ja Sylvia! Dieselben wachen Züge wie früher, dieselben wissenden Augen. Wenn ich an die Sylvia meiner Kindheit zurückdenke, fallen mir sofort zwei Eigenschaften ein: Verantwortungsbewusst und grenzenlos gutmütig. Und genau das strahlte sie immer noch aus.
Sylvia und Tanshi im Arm entdeckte ich Koi, die sich zu einer anmutigen Schönheit mit glänzenden langen Haaren gemausert hatte. Ein ebenmäßiges Gesicht mit feinen Zügen, das jedoch hin und wieder einen verhaltenen, schüchternen Ausdruck annahm. Das verschmitzte, charmante Strahlen war einem gewissen Ernst gewichen. Eine flüchtige Beobachtung, ein kurzer, erster Eindruck, mehr nicht. Vielleicht hatte ich mich auch getäuscht, und sie war nur angespannt, weil unser Wiedersehen so viele Erinnerungen wachrief.
Sylvia, Tanshi und ich nahmen Koi in unsere Mitte und schlenderten über das provisorische Rollfeld. Nun gab es kein Halten mehr. An die vierzig Aparai-Wajana stürmten auf mich zu. Ich wurde an den Haaren berührt von all denen, die mir früher nahegestanden hatten. Andere versuchten, mir die Schulter zu tätscheln, Kinder, die mich nur vom Hörensagen kannten, umringten mich tanzend, sprachen meinen Namen aus, als hätten sie ihn schon hundertmal gehört. Die älteren Herrschaften begrüßten mich, indem sie die Hand hoben oder mir über die Wangen strichen. Einige schüttelten mir sogar die Hand, was unter Amazonasindianern eigentlich unüblich ist.
»K ennst du mich noch?«
»K atarischi, Katarischi, bist du zurückgekommen, um zu bleiben?«
Diese Frage wurde mir in den kommenden Tagen so häufig gestellt, dass ich irgendwann selbst begann, mir auszumalen, wie das wäre. Was, wenn ich einfach nicht mehr nach Deutschland zurückkehrte? Könnte ich überhaupt noch hier leben?
»N ein, wie groß sie doch geworden ist!« Eine ältere Tirio schlug sich lachend auf die Schenkel. Im Vergleich zu den zierlichen Aparai war ich wirklich riesig. »D amals warst du soooo klein, und jetzt bist du dreimal so hoch!« Schallendes Gelächter. Schüchtern drückte mir ein Mann die Hand, dessen Gesicht mir irgendwie bekannt vorkam. Häuptling Chico, der mit seiner ganzen Sippe aus Mashipurimo angereist war. Nach dem Tod seines Vaters Kulapalewa war das Amt des Würdenträgers auf ihn übergegangen. Beinahe verlegen stellte er sich als neuer Dorfchef vor – er, der früher fast eine Art großer Cousin für mich gewesen war. Chico hatte sich kaum verändert. Seine Haare waren kürzer, die Lachfältchen unter den Augen mehr geworden. Ansonsten war er derselbe wie früher. Hinter ihm stand Jam, die ich auf Anhieb erkannte. Das gleiche ansteckende Lachen wie einst. Unkompliziert, offen und frei. Eine Frau zum Pferdestehlen. Aus ihr und Chico war tatsächlich ein Paar geworden, mit vielen gemeinsamen Kindern. Sie waren ein gutes Gespann, es war schön zu sehen, wie behutsam sie miteinander umgingen.
Am bewegendsten und verstörendsten zugleich war das Wiedersehen mit Antonia und Araiba. Antonia begrüßte mich wie eine verlorene Tochter, sie umarmte und herzte mich und wich fortan keine Sekunde mehr von meiner Seite. Sie begleitete mich später sogar zum Gästehaus, obwohl das eigentlich die Angelegenheit des Großhäuptlings von Aldeia Bona, Tuuwonno, gewesen wäre. Erfreulicherweise blieb mir die langwierige Begrüßungszeremonie im Rundhaus erspart. Ich wurde weniger als Gast denn als heimkehrendes Familienmitglied betrachtet. Ein beruhigender Gedanke.
Araiba hingegen verharrte in einiger Entfernung, nachdem er mir kurz die Hand gereicht und mich von Kopf bis Fuß gemustert hatte. Während der letzten Jahre hatte er über meinen Vater wiederholt Grüße an mich ausrichten lassen. Noch zwei Mal war mein Vater an den Amazonas zurückgekehrt; in der Zeit zwischen seinen Besuchen hatte er Kontakt über die Indianerschutzbehörde gehalten. Araibas sehnlichster Wunsch war es gewesen, mich noch einmal zu sehen, bevor er starb. Und nun so etwas. Aus der Entfernung verfolgte ich, wie er, äußerlich kaum verändert, nur noch dürrer, über das Rollfeld davoneilte, um anschließend in Richtung Fluss zu verschwinden. Weg war er. Damit hatte ich nicht gerechnet. Hatte ich als
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