Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Quadratkilometer und bedeckt fast 60 Prozent der Fläche Brasiliens. Pro Minute fällt nach offiziellen Angaben heute eine Fläche von vier Fußballfeldern den Flammen zum Opfer, was im Jahr in etwa der Größe von Nordrhein-Westfalen entspricht. Nach einem kurzfristigen Rückgang steigt die Abholzung gegenwärtig wieder dramatisch an. Eine tickende Zeitbombe für unser Weltklima. Für die Region selbst sind die Folgen schlichtweg verheerend: Das Amazonasgebiet ist für seine nährstoffarme Bodenschicht bekannt, die ohne schützendes Wurzelwerk vom nächsten Regenguss ausgeschwemmt wird. Manche Umweltschützer befürchten deshalb, dass durch die Erosion bereits mehr als ein Fünftel des Regenwaldes verloren ist. Für immer.
Es fällt nicht schwer, die Großgrundbesitzer für diese Zerstörung verantwortlich zu machen. Die Gier nach Anbauflächen für das Futter ihrer Rinderherden ist grenzenlos. Dabei bedienen sie nur den wachsenden Appetit der Welt auf Fleisch. Endlose Sojafelder rauben dem Wald so seinen Boden, riesige Anbauflächen für Biosprit kommen inzwischen hinzu.
Es ist auch einfach, auf illegale Bergarbeiter zu schimpfen, auf Goldsucher, Holzfäller und Glücksritter jeder Couleur, die den Urwald besiedeln, um ihn auszubeuten. Sie zerstören ihn weniger in böser Absicht, sondern hoffen vielmehr, dadurch dem Elend zu entfliehen, der Armut, der Perspektivlosigkeit. Wer heute Not leidet, denkt kaum an morgen.
Wir stellen auch gern die Politiker an den Pranger, die so etwas geschehen lassen. Und die Großkonzerne, die sich aus purer Profitgier beteiligen. Doch die Nachfrage nach Rohstoffen wird auch von uns angeheizt. Wir betrachten es als unser selbstverständliches Recht, preiswertes Fleisch zu kaufen, Kaffee, Rohrzucker, Kakao, Palmöl und vieles mehr, was direkt oder über Umwege aus dem Urwald kommt. Unsere Industrie verlangt nach Eisenerzen, Mangan, Zinn und Bauxit. Nach Erdöl, tropischem Hartholz, nach Gold, unzähligen anderen Rohstoffen und Edelsteinen. Kein Berg, kein Meer, kein Regenwald, dem sich nicht doch noch ein paar Rohstoffe entlocken ließen. Die Ironie der Geschichte ist, dass ausgerechnet jene Völker die Rechnung für unseren Lebensstil bezahlen, die es als Einzige über Jahrtausende verstanden haben, im Einklang mit der Natur zu leben, ohne sie dabei zu zerstören.
All diese Zusammenhänge kennt man, zumindest in der Theorie. Und doch ignorieren wir sie nach Kräften. Etwas völlig anderes ist es, die dramatischen Folgen an Ort und Stelle zu sehen – wie ich während meines rund zweistündigen Fluges. Die aufgekratzte, rotbraune Erde zu überfliegen, die sich wie eine klaffende Wunde durch die Landschaft zog. Rauchschwaden und Flammen zu beobachten, die sich tiefer und tiefer in den Regenwald hineinfraßen.
»D er Urwald weint«, notierte ich in mein Tagebuch.
Als das Lufttaxi langsam in den Sinkflug überging, wischte die Freude über das Wiedersehen mit den Aparai-Wajana meine trüben Gedanken beiseite. Mit ein paar kurzen Hopsern setzte die Maschine auf der Landepiste auf. Noch während wir über die buckelige Piste von Aldeia Bona holperten, rannten von allen Seiten Indianer auf unser Flugzeug zu. Keine zwei Minuten nachdem ich mich etwas schwerfällig aus dem kunstledernen Sessel gepellt hatte, der inzwischen wie Tesa an meiner Haut klebte, stand ich auf dem staubigen Boden, den ich vor beinahe zwei Jahrzehnten verlassen hatte.
Tanshi mit ihrem jüngsten Spross
Auf den ersten Blick sah alles unverändert aus. Dieselben, mit Palmblättern gedeckten Dächer wie einst, derselbe Horizont hinter der Savanne, auf der das Dorf errichtet worden war. Während sich einige Aparai aus dem Begrüßungskomitee daranmachten, die Gepäckluke des kleinen Fliegers zu entsichern, stürzte ein kleines Wesen auf mich zu und rannte mich fast um. Als ich mich wieder gefangen hatte, blickte ich in ein Paar strahlende Augen. An der rechten Brust der jungen Frau, die mich derart stürmisch umklammerte, hing ein winziges Baby, das mich neugierig musterte. Ich musste lachen, als ich erkannte, um wen es sich bei dessen temperamentvoller Mama handelte: Meine kleine Patenschwester Tanshi, die ich inzwischen um anderthalb Köpfe überragte! Wir lachten und weinten vor Freude, umarmten uns und hüpften wild im Kreis herum. Beinah wie früher.
Als wir uns etwas beruhigt hatten, zog mich Tanshi zu sich hinunter und strich mir immer wieder über das Haar, ganz sanft und so, als könne sie immer noch
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