Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
hatte.
Ständig wurden Anekdoten aus meiner Kindheit erzählt. »W eißt du noch, wie deine Mutter gefüllte Nudeln gemacht hat, und du vorgegeben hast, satt zu sein, weil du das europäische Essen nicht mochtest? Und dann hat dich Tam immer bei uns gefunden, wo du mit vollen Backen Affenfleisch geschmatzt hast.«
Großes Gelächter.
Weißt du noch, weißt du noch, weißt du noch … Geschichten, die allen so präsent waren, als wäre ich lediglich aus einem längeren Sommerurlaub heimgekehrt. Meine zwei Jahrzehnte in der hochtechnisierten Welt waren auf einmal wie weggewischt. Als wären sie nur Kreidezeichnungen auf einer Tafel gewesen.
Jeden Tag traf ich mich mit Sylvia, Koi oder Tanshi, die alle inzwischen Kinder hatten. Ein kleiner Schwatz hier und da, ein Spaziergang zum Fluss, genau wie früher. Sylvias Tochter Talomo wurde zu einer meiner Lieblingsnichten. Möglicherweise, weil sie das Abbild ihrer Mutter als kleines Mädchen war, gesegnet mit der Weisheit ihres Urgroßvaters Araiba. Tanshi hatte ihr sonniges Gemüt bewahrt, das sie schon als Kind so liebenswürdig gemacht hatte. Keiner konnte ihrem Charme widerstehen. Sie blieb für mich die kleine Schwester, die sie einst gewesen war. Sie strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus und wollte alles über mein Leben erfahren. Als sie hörte, dass ich noch keine Kinder hatte, wollte sie mir eines der ihren schenken, damit ich so glücklich würde wie sie. Sie könne ja jederzeit ein neues machen, meinte sie mit einem Augenzwinkern. Als ich merkte, dass das Angebot kein Witz war, protestierte ich. Woraufhin Tanshi mir vorschlug, ich solle das Kind wenigstens so lange bei mir behalten, bis ich ein eigenes bekäme. Ich versprach, darüber nachzudenken, war aber sehr froh, als sie einsah, dass ihr Kind es in Deutschland niemals so gut haben würde wie bei ihr im Urwald.
Zwischen mir und Koi, der mir Ebenbürtigen, die mir als Kind so nah gewesen war, kehrte die alte Vertrautheit leider nicht ganz zurück. Trotz unserer regelmäßigen gegenseitigen Besuche blieb sie mir gegenüber reservierter als meine beiden anderen Freundinnen. Sie wirkte in sich gekehrt, ohne dass ich den Grund dafür hätte benennen können. Wo war bloß ihre Frechheit geblieben, ihre Lebendigkeit? Bedrückte sie etwas? Die Vorahnung, dass meine Rückkehr nur eine auf Zeit sein würde? Wann immer ich sie darauf ansprach, wich sie mir aus. Meine Sprachkenntnisse reichten leider nicht mehr aus, um der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Inzwischen denke ich, dass Koi damals schon ahnte, dass sie krank war. Aparai haben oftmals Vorahnungen, die mit unserem rationalen Blick auf die Welt nur schwer zu begreifen sind. Ihre Instinkte und Sinne sind geschärft und noch nicht von unzähligen Eindrücken überflutet wie die unsrigen.
Nach und nach erfuhr ich auch etwas über die anderen Dorfbewohner. Tante Malina erzählte mir, was in der Zwischenzeit geschehen war. Ihre Ohren waren überall. Und sie hatte die Gabe, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Die Aparai erzählen gerne und viel, doch sie mögen weder Belanglosigkeiten noch falsches Geschwätz. Hinterhältigkeiten sind ihnen fremd. Selbst tragische Geschichten haben oft eine witzige Pointe. Sie würden nie etwas über jemanden erzählen, was sie demjenigen nicht auch direkt ins Gesicht sagen würden. Wer es hingegen wagte, sie zu hintergehen, der wurde bitter bestraft. Es gab Menschen, die durchaus wirksame Flüche und Verwünschungen ausstoßen konnten. Auch wenn heutzutage niemand mehr gerne darüber spricht.
Ich war beeindruckt, wie gut Malina mit der inzwischen gealterten Pulupulu, der Erstfrau ihres verstorbenen Gemahls Kulapalewa, zurande kam. Beide waren Witwen desselben Mannes, was sie zusammenschweißte wie Schwestern. Pulupulu, die mich ebenfalls mit offenen Armen empfing, nannte ich fortan »U rgroßmutter«. Eine Würdigung ihres Alters. Dass die Großfamilie tatsächlich fest zusammenhielt, mochte auch an Chicos besonnener Art liegen, der es als Oberhaupt seines Clans ausgezeichnet verstand, jede noch so kleine Spur von Neid oder Missgunst im Keim zu ersticken. Es war ihm gelungen, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen. Der einstige Liebling Kulapalewas war inzwischen aus dem Schatten seines verstorbenen Vaters herausgetreten. Er hatte Verantwortung übernommen und war in sein Amt als Dorfchef hineingewachsen. Geblieben waren seine Schüchternheit und sein bescheidenes Auftreten. Als ich ihn einmal für sein
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