Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
ihre Kinder von klein auf mit in den Urwald nahmen, um ihnen beizubringen, was sie fürs Leben brauchten, hatten die meisten Väter in unserer Nachbarschaft überhaupt keine Zeit für ihre Kinder. Sie kamen erst heim, wenn ihre Töchter und Söhne schon längst im Bett lagen. Wochenendpapis, Hausfrauen- oder Halbtagsmamis, diese Rollenverteilung erschien mir verquer. Überhaupt drehte sich bei den Erwachsenen alles um den Job, das Privatleben musste sich – so schien es mir zumindest – dem Beruf unterordnen. Bei allem ging es weniger darum, was einen erfüllte, sondern was Geld und Ansehen brachte. Wer Karriere machte und Wohlstand anhäufte, hatte etwas aus seinem Leben gemacht. Die anderen galten schnell als Verlierer. Das Gemeinschaftsgefühl, das bei den Aparai alles zusammenhielt, das Gefühl, von den anderen getragen zu werden, ganz gleich in welcher Situation, suchte ich hier vergebens. Ich, ich und noch mal ich – danach kam lange nichts.
Körperpflege auf Indianisch
Als ich älter wurde und mich wieder freier bewegen durfte, begann ich mich schließlich heimischer zu fühlen. Auch weil meine Umgebung kritischer wurde, politischer, auf jeden Fall aber sensibler. Eine schichtenübergreifende Umweltbewegung formierte sich, die anschwoll wie ein gewaltiger Strom. Wir lebten in der Angst vor einem Atomkrieg, was die Menschen dazu brachte, auf die Straßen zu gehen und »P ershing, nein danke« und »N ie wieder Krieg« zu skandieren. Viele trugen Buttons mit Friedenstauben am Revers und auch solche, auf denen »A tomkraft, nein danke« stand. Die Bürger formierten sich, forderten die Industrie auf, keine Abwässer mehr in die Flüsse zu leiten und die qualmenden Schlote der Fabriken mit Schadstofffiltern zu versehen, um das Waldsterben zu stoppen. Es gab sogar einen autofreien Sonntag, bei dem die meisten Menschen freiwillig und mit einiger Begeisterung mitmachten. Nie wieder war Fahrradfahren so schön wie damals, als die Hauptstraßen fast nur uns gehörten.
In dieser Phase hatte ich kurz das Gefühl, dass die Menschen langsam begriffen, was die Indianer schon seit jeher wussten: Dass wir uns selbst zugrunde richteten, wenn wir die fortschreitende Zerstörung unseres Planeten nicht stoppten. Ein indianischer Spruch machte sogar Karriere, eine Prophezeiung der nordamerikanischen Cree-Indianer, die scheinbar unaufhaltsam zur Realität wurde: »E rst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.«
Ein kurzes Strohfeuer, sehr viel mehr war es damals leider nicht, denn die Zerstörung unseres Planeten ging weiter; ihre Auswirkungen sehen wir bereits heute und werden sie in Zukunft noch stärker erleben, sehr viel mehr, als den meisten Menschen zum jetzigen Zeitpunkt bewusst sein dürfte. Was werden unsere Nachfahren wohl über unsere Epoche sagen? Ob sie aus unseren Fehlern lernen werden?
Kinderhüten ist …
… auch Männersache
Mit Sylvia und ihren Kindern, 18 Jahre später
Rückkehr nach Jahrzehnten
Fast zwei Jahrzehnte nach unserem Abschied kehrte ich noch einmal an den Amazonas zurück. Zuletzt hatte ich selbst kaum noch daran geglaubt, so viel Zeit war inzwischen vergangen. Mein Leben unterschied sich grundlegend von dem jener Menschen, die mich in meiner frühen Kindheit begleitet hatten. Während meine indianischen Freundinnen allesamt und sehr früh Familien gegründet und eine Schar von Töchtern und Söhnen in die Welt gesetzt hatten, führte ich noch ein improvisiertes Studentendasein. Mit Anfang, Mitte zwanzig, stand ich erst am Beginn meines Lebens als Erwachsene, während die Aparai-Wajana in diesem Alter ihren Zenit bereits überschritten haben. Mit vierzig, spätestens 45 Jahren treten sie, so war es zumindest früher, in die letzte Phase – das Alter – ein.
Als feststand, dass ich an den Amazonas zurückkehren würde, erfasste mich eine unbeschreibliche Vorfreude. Aber auch ein Anflug von leisen Zweifeln. Was mich wohl im Urwald erwartete? Ob es dort annähernd so aussah wie in meiner Erinnerung? Ob mich die Menschen, mit denen ich gemeinsam aufgewachsen war, überhaupt noch erkannten? Oder war inzwischen einfach zu viel Zeit vergangen? Würde die Rückkehr in den Urwald meine positiven Erinnerungen zerstören, weil sich inzwischen alles grundlegend verändert hatte?
Die Wochen der Vorbereitung vergingen wie im Flug, und im Nachhinein bin ich selbst darüber
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