Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Technik bedeutend lieber gewesen, doch mit einem Motor an Bord ging es schneller. Sechs Stunden flussaufwärts zu paddeln war in der brütenden Tropenhitze wahrlich kein Spaß. Mit dem Außenborder schafften wir es in etwas mehr als einer Stunde.
»D ickicht zieht vorüber, die Baum- und Luftwurzeln ragen kreideweiß aus dem Wasser heraus, ein typisches Bild während der Trockenzeit. Hellblauer Himmel, kleine weiße Wölkchen, eine herrliche Bootsfahrt in die Vergangenheit. Hier und dort überholen wir einen Einbaum mit einem angelnden Indianer, der uns freundlich grüßt. Antonia verpflegt uns reihum mit goldgelben, überreifen, süßlich duftenden Mangos«, schrieb ich in mein Tagebuch.
Nach einer knappen Stunde veränderte sich die Flusslandschaft. Die Wälder wurden höher, wir passierten hügelige Felslandschaften, und selbst das Wasser nahm eine neue Schattierung an. Ein glasklares Hellbraun anstelle von trübem Dunkelgrün. Im Zickzack-Kurs navigierte uns Jackä an riesigen Sandbänken vorbei, um kugelige Felsen herum. Vorbei an schroffen Unterwasserfelsen, die nur ein geschultes Auge erkennen konnte. Überdimensionale Basaltsteine lagen wie von Göttern achtlos in den Fluss geworfene Murmeln im Flussbett.
An der linken Uferseite machten wir schließlich Halt. Um die gewaltige Stromschnelle Mashipurimos zu überwinden, hätten wir das Boot ausladen und über Land tragen müssen. Mit Schrecken dachte ich an meine Rückenschmerzen. Antonia lachte, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »K eine Bange, wir kommen bequem weiter.« Gleich oberhalb der Stromschnelle lag ein verborgenes Einbaumboot. Versteckt hinter Gestrüpp. Nach einem kurzen Bootswechsel ging es weiter. Ins alte Mashipurimo.
Der Lebensmittelpunkt meiner Kindheit hatte sich inzwischen zu einem bis zur Unkenntlichkeit überwucherten Geisterdorf gewandelt. Nur die verlassenen Pflanzungen erinnerten noch daran, dass hier einmal Menschen ein Stück Land im Urwald kultiviert hatten. Die Hütten hingegen waren längst vom Urwald verschluckt, von Termiten zu Holzstaub zerfressen worden. Hier hatten einmal Menschen gelebt, Kinder waren hier geboren worden, Alte hier verstorben, hier hatte auch eine Familie aus dem fernen Deutschland einige sehr glückliche Jahre verbracht. Irgendwo tief unter der Erde ruhte noch ein Schatz, der darüber eine Geschichte erzählen konnte.
Nachdem wir eine ganze Weile auf die einstige Heimat geblickt hatten, steuerte Jackä eine kleinere Bucht auf der gegenüberliegenden Flussseite an. Antonia nahm mich beim Aussteigen an die Hand wie ein kleines Kind. Sie bedeutete mir, ihr zu folgen, sie wollte mir unbedingt etwas zeigen. Ein paar Schritte weiter bahnten wir uns den Weg durch einen Vorhang aus Schlingpflanzen. Dahinter ein umwerfender Ausblick. Die Hütten sahen genauso aus wie die Häuser in unserem alten Dorf. Sie waren kleiner als die in die Jahre gekommenen Hütten Aldeia Bonas, allerdings auch deutlich schmucker. Die meisten waren Pfahlbauten mit hochgelegten Böden, andere hatten Schutzwände aus geflochtenen Palmblättern. Das also war Neu-Mashipurimo, der Ort, in dem jetzt Chico der Dorfchef war.
»W ie kleine Streichholzschachteln stehen die Hütten aneinandergereiht, mitten in den steilen Hang hineingebaut. Geschützt vom undurchdringlichen Urwald auf der einen Seite, gut an die Wasserstraße angebunden durch eine einladende Bucht auf der anderen Seite. Goldgelb glänzen die frisch gedeckten Dächer. Beschattet von dicht gepflanzten Mangobäumen, unter deren Sonnenschutz es sich in der tropischen Hitze vortrefflich aushalten lässt. Überhaupt gibt es überall Mangobäume in den Dörfern. Die gab es in den siebziger Jahren noch nicht«, notierte ich in krakeligen Lettern in mein Tagebuch.
Zwei imposante Bauten fielen mir ins Auge: einer für Chicos Clan, zu dem nach wie vor Koi und Tanshi zählten, dazu Jam, Chicos Ehefrau, sowie zahlreiche Kinder, Enkel und Urenkel. Nur Malina hatte eine eigene Schlafhütte, eine Wohnhütte und ein Backhaus. Als Witwe des ehemaligen Häuptlings stand ihr das zu. Das andere Haupthaus gehörte Antonias Sippe, mit Sylvia, Araiba und all den anderen. Dazwischen kleine ebenerdige Backstuben, in denen riesige Pfannen an den Stützpfählen lehnten.
Alles wirkte gepflegt und frisch gefegt. Ich hockte mich auf den Boden und ließ das Bild auf mich wirken. Wie schön es hier doch war. Araiba musterte mich eine Weile, dann machte er mir ein Angebot: Falls ich mich entschied zu
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