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Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katie Hickman
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flirrenden Hitzeschleier lag. Dann bog sie in den Halbschatten einer Allee aus Lindenbäumen ein. Ein immer stärker anschwellendes Summen erinnerte sie daran, dass sie sich den Bienenstöcken näherte. Sie ging ein paar Schritte zurück und verbarg sich hinter einer Hecke. An den Bienenstöcken machte sich Suor Virginia, eine der ältesten Nonnen, zu schaffen. Ihr gebeugter Rücken war Annetta zugewandt, und über dem Gesicht trug sie ein bauschiges Netz. Sie war zu beschäftigt, um sie zu bemerken, erkannte Annetta und schlich leise auf der Allee weiter.
    Obwohl sie ihn nur von weitem und durch ein Fernglas gesehen hatte, hegte sie keine Zweifel, dass der Mann, der in den Garten geschlüpft war, mit dem Mann aus der Gondel identisch war. Was hatte er nur vor? Sie meinte, diesen mürrischen, arroganten Blick von irgendwoher zu kennen. Glaubte dieser Kerl allen Ernstes, er könne sich unter die Nonnen schleichen und dann vor seinen Freunden damit prahlen? Manchmal dachte sie fast mit Wehmut an den Harem des Sultans zurück, in dem sie keinen Mann zu Gesicht bekommen hatten, es sei denn, man zählte die Eunuchen dazu, die Männer ohne testicolos, die Beschnittenen. Trotzdem hatten sich einige der Mädchen auch in diese verliebt.
    Annetta brach der Schweiß aus. Haarsträhnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und lugten unter dem Schleier hervor. Das Unterkleid klebte ihr am Rücken. Außer Suor Virginia mit ihrer Imkerhaube befand sich niemand im Garten. Am anderen Ende, in der Nähe der Mauern, die den Garten von der Lagune abgrenzten, stieß Annetta zwischen zwei Hecken auf einen Pfad, an dessen Ende sie eine kleine, überwucherte Laube mit einer Steinbank entdeckte. Erschöpft von der Hitze setzte sie sich dankbar in den grünen Schatten. Sie fühlte die Kühle des Steins sogar durch den dicken Stoff ihrer Röcke. Irgendwo hinter der Hecke plätscherte Wasser – ein Brunnen oder eine Quelle, das konnte sie nicht unterscheiden. Und in diesem Moment hörte sie zwei Stimmen, einen Mann und eine Frau, die leise miteinander lachten.
    Annetta sprang auf und rannte mit gerafften Röcken den Pfad zurück, den sie gekommen war. Sie lief hinter eine der Hecken und fand sich in einer runden Grotte wieder, in deren Mitte eine Skulptur stand. Ein dünner Wasserstrahl ging von ihr aus. Gerade hatte sich Annetta erleichtert eingestanden, dass ihr die Hitze einen Streich gespielt hatte, als sie aus dem Augenwinkel etwas Buntes am Eingang der Grotte vorbeiflitzen sah. Also doch! Ohne nachzudenken, rannte sie hinterher. Dann besann sie sich, kehrte um und lief an der anderen Seite der Hecke entlang, bis sie wieder in der Laube stand. Kein Mensch weit und breit.
    Keuchend ließ sich Annetta auf die Steinbank sinken. Kaum saß sie, legte sich von hinten eine Hand um ihren Hals und eine andere hielt ihr grob den Mund zu. Sie versuchte aufzuspringen, aber es gelang ihr nicht, sich aus dem eisernen Griff zu lösen. Verzweifelt versuchte sie, den Kopf nach links oder rechts zu drehen, um zu sehen, wer sie gefangen hielt, aber je mehr sie sich wehrte, desto härter packten die Hände zu. War es der Mann aus dem Boot, dessen Finger sie auf der Kehle spürte?
    Da sie den Kopf nicht bewegen konnte, sammelte Annetta ihre ganze Kraft und versetzte der Person, die hinter ihr stand, unter der Bank hindurch einen heftigen Tritt.
    »Au!« Sofort ließen die Hände los. Annetta stolperte wie gehetzt aus der Laube hinaus.
    »Suora!« , rief eine Stimme hinter ihr.
    »Was …?«
    »Ich bin’s!«
    Annetta drehte sich um. »Ursia!«
    Vor ihr stand Suor Ursia, die sich vor Lachen bog.
    »Was im Namen aller Heiligen hat dich gestochen?«, fuhr Annetta sie wutentbrannt an.
    Immer noch lachend rang Ursia nach Luft. »Es war nur ein Scherz«, ächzte sie, »du solltest mal dein Gesicht sehen!« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und kam hinter der Steinbank hervor. An ihrem Gewand hingen zerdrückte Blätter und Spinnweben.
    »Das hältst du für lustig?« Annetta schüttelte den Kopf. »Du hast mich zu Tode geängstigt!« Sie sank im Schatten der Hecke zu Boden und zog sich die Haube vom Kopf.
    »Es tut mir leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe«, entschuldigte sich Ursia zerknirscht und setzte sich neben Annetta. »Du hast solch ein rotes Gesicht – geht es dir gut?«
    »Ja, ja, es geht schon, ich muss mich nur kurz ausruhen.« Annetta fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Es tat gut, die Luft auf der Kopfhaut und im Nacken zu fühlen.

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