Das Mädchen von San Marco (German Edition)
» Madonna! Ich hätte nie gedacht, dass du so stark bist!«
»Und du hast dich gewehrt wie eine Katze, die man ertränken will.«
»Ich dachte …«
»Was hast du gedacht?«
»Ich dachte, du wärst dieser Mann.«
»Welcher Mann?«
»Der aus der Gondel. Er hatte ein Fernglas, weißt du, wie das von der Oberin Sauertopf.«
»Und du hast angenommen, er ist hier?«
»Ich habe gesehen, wie er durch die Tür der educande in den Garten geschlüpft ist. Ich bin mir ganz sicher. Und da bin ich ihm gefolgt.«
»Hast du ihn denn hier gesehen?«
»Nein. Aber gehört. Ein Mann und eine Frau haben miteinander geredet. In der kleinen Grotte mit dem Brunnen.« Annetta deutete auf die Hecke. »Du warst doch auch dort, hast du sie nicht gehört?«
»Ich? Nein. Ich habe dich gesucht.« Ursia zuckte die Achseln. »Ich glaube, du hast dir das eingebildet – das kommt manchmal vor bei solch einer Hitze.« Sie tätschelte Annettas Arm. »Und jetzt« – sie hielt Annetta die Haube hin – »setzt du die lieber wieder auf. Es hat schon vor einer Ewigkeit zum Gebet geläutet, und du weißt, wie der alte Sauertopf tobt, wenn wir zu spät kommen. Lass uns hineingehen.«
Kapitel 8
Annetta wusste sehr wohl, was sie von Suor Purificacion zu erwarten hatte. Sie sollte es am nächsten Nachmittag wieder einmal erleben, als die stellvertretende Äbtissin nach ihr schickte.
»Wisst Ihr, warum ich Euch rufen ließ?«
»Nein, Suor.«
»Nein , Ehrwürdige Mutter .«
»Nein … Suor Purificacion.«
Annetta fixierte angelegentlich das kleine Kruzifix an der Wand gleich neben dem Kopf der Nonne. Sie ließ einige Sekunden vergehen, dann fuhr sie fort: »Vergebt mir, suora, aber man lehrte mich, dass nur unsere Ehrwürdige Mutter selbst als ›ehrwürdig‹ angesprochen werden solle – aber … möglicherweise irre ich mich?« Sie schlug demütig die Augen nieder. »Wenn dem so ist, bitte ich inständig um Vergebung.«
Die ältere Frau sagte eine Weile lang nichts. Annetta hörte ein leises Zischeln, als sauge sie beim Einatmen die Luft durch die Zähne – die wenigen Zähne, die ihr in ihrem aristokratischen Mund noch verblieben waren, dachte Annetta mit boshafter Genugtuung. Als sie einen kurzen Blick riskierte, sah sie, dass Suor Purificacion stumm die Lippen bewegte. Aber keine noch so ausgiebigen Gebete würden dem alten Sauertopf helfen, ihren, Annettas, Widerstand zu brechen, das schwor sie sich in diesem Moment.
Die alte Nonne durchbohrte Annetta mit ihrem Blick. Dann stand sie auf und stakste steifbeinig um die junge Frau herum, bis sie hinter ihr stand. Man hörte nur das ungeduldige Klopfen des silberbeschlagenen Gehstocks auf dem Fußboden.
»Es scheint, wir hatten gestern einen Eindringling.«
»Aha?«
»Im Garten.«
»Oh.«
»Das hatte nicht zufällig etwas mit Euch zu tun, suora? «
Als Annetta nicht antwortete, fuhr die alten Nonne fort: »Wir wissen, dass er im Garten war, dieser monarchino, weil er eines von Suor Annunciatas schönsten Blumenbeeten zertrampelt hat, und beim Überklettern der Mauer hat er mehrere Äste ihrer besten Birnbäume abgebrochen. Er hat uns sogar ein Geschenk hinterlassen, einen seiner Schuhe …«
Eine lederne Männersandale landete auf den Steinfliesen zu Annettas Füßen.
»Ein monarchino? «
»Ich bin sicher, dass Ihr dieses Wort schon häufig gehört habt, suora . Ein Mann, der sich einen Spaß daraus macht, heimlich mit Nonnen fleischlichen Gelüsten nachzugehen.«
»Oh …«
»Schockiere ich Euch?« Suor Purificacion verzog die Lippen zu der Andeutung eines Lächelns. »Gewiss nicht, suora . Euch doch zu allerletzt.«
Während sie sprach, spürte Annetta eine Bewegung am Saum ihres Kleides und blickte nach unten. Suor Purificacion hatte den silbernen Griff ihres Gehstocks unter Annettas Gewand gehakt und die Röcke ein paar Zentimeter angehoben, gerade so weit, dass die verbotenen Pantöffelchen sichtbar wurden. Annetta hörte die Glocken eines fernen Campanile auf der anderen Seite der Lagune die volle Stunde schlagen.
Suor Purificacion machte ein paar mühsame Schritte, bis sie unmittelbar vor Annetta stand. Ihr vom Schleier umrahmtes Gesicht bildete ein vollkommenes Oval, und ihre blasse Haut war trotz des hohen Alters noch erstaunlich glatt. Sie muss einmal sehr schön gewesen sein, dachte Annetta überrascht. Die schwarzen Augen der Spanierin waren von schweren Lidern überschattet, die ihr ein fast schläfriges Aussehen verliehen.
»Dieser … monarchino,
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