Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Auge.
Die Hochzeitsgesellschaft befand sich jetzt schon ein Stück näher vor der Insel, und man konnte vom Klosterfenster aus mit dem bloßen Auge Einzelheiten ausmachen.
Es gab keinen Zweifel mehr. Im hinteren Teil der letzten Gondel stand ein Mann, der ein Fernglas in der Hand hielt, das Annettas aufs Haar glich. Er hatte einen schlanken, drahtigen Körper und wirre Locken, die ihm bis zu den Schultern herabhingen. Wie lange er das Fernglas schon auf das hochgelegene Fenster des Schlafsaals gerichtet hatte, wusste sie nicht. Doch als sie jetzt in seine Richtung blickte, hob er den Arm und winkte lässig. Und dann legte er, als sei er ihrer Aufmerksamkeit sicher, aufreizend langsam und offenbar mit voller Absicht eine Hand zwischen die Beine und bewegte anzüglich die Hüften.
Annetta ließ das Fernglas fallen, als habe eine Biene sie gestochen. Klappernd fiel es zu Boden. Sie kletterte hastig von der Bank herunter, ihr Gesicht war gerötet.
Die anderen umringten sie. »Was ist? Was ist passiert?«
»Nicht, gar nichts … Ich glaube nur, ich sollte Suor Purificacion das Fernglas schnell zurückbringen.« Mit diesen Worten floh sie aus dem Zimmer und ließ die anderen Schwestern aufgeregt plappernd zurück.
Man hatte die Hochzeitsgesellschaft in den Empfangsraum geleitet, wo die traditionellen Erfrischungen – Wein aus den klostereigenen Weinbergen, selbstgebackener Kuchen und Gebäck – bereitgestellt waren. Die Gäste waren ausgelassener Stimmung, was darauf deutete, dass das Kloster nicht die erste Station ihrer Besuchsrunde war. Die Nonnen saßen, wie es die Klosterregel verlangte, in einem zweiten Raum, der vom öffentlichen Saal durch ein schmiedeeisernes Gitter abgetrennt war. Vor allem die jüngeren unter ihnen, zu denen auch Suor Francesca und Suor Ursia gehörten, standen möglichst dicht an diesem Gitter. Sie riefen die Braut zu sich, befühlten deren Spitzenkragen und den Brokatstoff ihres Hochzeitsgewandes. Nach einer Weile öffnete sich eine Tür in der gegenüberliegenden Wand, und eine dritte Gruppe strömte herbei. Das waren die educande, junge Mädchen, die nicht im Kloster lebten, um das Gelübde abzulegen, sondern von ihren Eltern in Pension gegeben worden waren, damit sie Handarbeiten lernten und etwas über den Katechismus erfuhren, bevor man einen Ehemann für sie fand. Als Ottavia, die Braut, die bis vor wenigen Wochen noch unter ihnen gelebt hatte, sie erblickte, schrie sie entzückt auf. Die jungen Mädchen fielen sich unter Gelächter und Tränen um den Hals und umarmten und küssten sich zur großen Erheiterung der Umstehenden.
Nur eine ließ sich von der festlichen Stimmung nicht anstecken. Annetta saß für sich allein ganz hinten in dem abgetrennten Bereich und zog ein mürrisches Gesicht. Sie lehnte sogar den Wein und den Kuchen ab, die man ihr anbot. Nach einer Weile gesellte sich Ursia zu ihr.
»Darf ich mich neben dich setzen?«
Annetta zuckte die Achseln, rutschte aber zur Seite, um Ursia Platz zu machen.
»Was ist los?«, fragte Ursia mit einem Seitenblick auf Annettas grimmige Miene. »Hat dich Suor Purificacion ertappt, als du das Fernglas zurückbringen wolltest?«
»Der alte Sauertopf soll mich erwischt haben? Niemals!«
»Dann hast du etwas gesehen? Durch das Fernglas, meine ich«, bohrte Ursia weiter, etwas zu beharrlich für Annettas Geschmack. Sie wollte nicht an den Mann und seine obszöne Geste erinnert werden. Was für kräftige Muskeln er gehabt hatte!
»Das geht dich gar nichts an.« Annetta stand auf und schüttelte mit einer heftigen Bewegung nicht vorhandene Krümel von ihrem Rock.
Im Dämmerlicht sah sie, dass Ursia ihr einen forschenden Blick zuwarf. Sie hatte ein markantes, nicht unbedingt hübsches Gesicht mit hohen Wangenknochen und schöne, volle Lippen, die sich beim Lächeln kräuselten. Annetta fragte sich, welche Farbe die Haare, die unter der strengen Haube steckten, wohl besaßen. Schwer zu sagen, vielleicht blond. Auf jeden Fall nicht dunkel. Ob sie sich Ursia anvertrauen sollte? Zuweilen fühlte sie sich ihr sehr nahe, denn die forsche junge Frau stand dem Klosterleben mit ebenso viel Respektlosigkeit gegenüber wie sie selbst und war ihr an Scharfsinn ebenbürtig. Manchmal hegte sie die Hoffnung, Ursia könne ihre Freundin werden, denn nach ihrer Rückkehr aus dem Harem und dem Verlust ihrer Freundin Kaya hatte sie sich oft einsamer gefühlt, als sie das früher für möglich gehalten hatte. Außerdem wusste sie, dass Ursia ihre
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