Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Geschichte eher lustig als schockierend finden würde. Sie selbst hätte sich ausgeschüttet vor Lachen – ja, sie wäre fast erstickt vor Gelächter –, wenn es einer der anderen passiert wäre. Doch aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht dazu überwinden, Ursia von dem Mann zu erzählen.
Als Ursia erkannte, dass von Annetta nichts mehr zu erfahren war, stand sie auf, ging ins Refektorium und überließ die Grübelnde ihren Gedanken.
Er kann mein Gesicht unmöglich gesehen habe, oder doch?
Annetta ließ aus sicherem Abstand den Blick über die Hochzeitsgäste wandern. Nein, das ist unmöglich, ich hatte die ganze Zeit das Fernglas vor den Augen. Er hat bestimmt nur den Lichtreflex gesehen, das Blitzen auf dem Glas hat ihn aufmerksam gemacht. Sie schob die beiden Locken, die sie am Morgen so sorgsam in die Stirn gezogen hatte, unter den Schleier zurück und ließ nervös den Blick über die Gäste schweifen. Befand sich der Mann aus der Gondel unter ihnen? Nein. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, vielleicht gehörte er gar nicht zu der Hochzeitsgesellschaft, sondern hatte in einem Boot gesessen, das versehentlich unter die Feiernden geraten war.
Bei diesen tröstlichen Überlegungen gewann Annetta allmählich ihre Gelassenheit zurück. Mit neuem Mut stand sie auf und ging auf das Gitter zu, um sich wieder unter die anderen zu mischen. In einer Ecke des öffentlichen Bereichs hatte einer der Hochzeitsgäste eine Art Bude aus gelb und rot gestreiftem Segeltuch aufgebaut, in der ein Puppenspieler am Werk war. Annetta setzte sich hin, um das Schauspiel zu genießen.
Und dann stockte ihr der Atem. Da war er. Ja, tatsächlich, er hatte hinter der Bude gesteckt. Braune Augen, verdrossener Blick – an dem sie ihn künftig überall erkennen würde – und dunkelbraune Locken bis auf die Schultern. An seinem Gürtel hing eine Kollektion scharfer Küchenmesser. Sie beobachtete, wie er sich aus der Gruppe der erwartungsvollen Zuschauer zurückzog und nach einem letzten, verstohlenen Blick – als er sicher war, dass niemand es bemerkte – durch die Tür der educande in den Klostergarten schlüpfte.
Da die meisten Nonnen mit dem Hochzeitsbesuch beschäftigt waren und zudem das Puppentheater Zuschauer anzog, war der Garten menschenleer, als Annetta dort ankam.
Sie hatte dem Eindringling nicht durch die Tür der educande folgen können, da das Gitter zwischen Nonnen und Besuchern dies verhinderte. Stattdessen war sie durch den Korridor, durch den sie gekommen war, zum Refektorium zurückgelaufen und dann durch den Küchentrakt, die verschiedenen Spülküchen und Lagerräume, die alle an den Gemüsegarten grenzten. Was sie zu ihm sagen würde, wenn sie ihn traf, hatte sie sich noch nicht überlegt.
Sie war so schnell gerannt, dass sie außer Atem war, als sie die Küche erreichte. Dort saß nur die dicke Anna auf einer Treppenstufe und schälte Möhren. Die taubstumme Küchenmagd war so schwer von Begriff, dass man ihr nicht einmal zutraute, das Puppentheater zu verstehen. Im Hof hinter der Küche lehnte sich Annetta gegen ein Regenfass, um Atem zu schöpfen.
Dies war ein Teil des Klosters, den aufzusuchen sie normalerweise kaum Anlass hatte. Dennoch kannte sie sich hier noch gut aus. Eine Schar Gänse zischte sie an, und eine schwarze Katze saß auf den roten Steinplatten in der Sonne und putzte sich das Fell. Damals als conversa hatte sie praktisch in der Küche gelebt, denn Laienschwestern wurden wie Dienstboten behandelt. Doch nun war sie mit einer guten Mitgift ins Kloster zurückgekehrt und sollte das Ordensgelübde ablegen. Alles hatte sich geändert. Sie war nun genauso viel wert wie diese hochnäsigen contesse – und allemal so reich.
Von dem gepflasterten Hof aus schlich sie leise in den Gemüsegarten und blieb dort einen Moment lang stehen, um sich zu orientieren. Es war um die Mittagszeit, und der Garten lag in der prallen Sonne vor ihr. Nicht einmal die Zypressen an den Mauern warfen einen Schatten. Ein Stück entfernt, neben dem mächtigen Hauptgebäude des Klosters, lag der Arzneigarten mit seinen gestutzten Hecken und den symmetrisch angelegten Hochbeeten, in deren kunstvoll geschwungenen Flächen die seltenen Heilpflanzen wuchsen, für die das Inselkloster berühmt war. Aber dort war man den Blicken zu sehr ausgesetzt, und so beschloss Annetta, im Ziergartenbereich zu bleiben. Sie betrat den Rosengarten, dessen rote, weiße und rosafarbene Blütenpracht ermattet unter einem
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