Das Mädchen von San Marco (German Edition)
gefischt?« Carew lockerte den Griff und hielt sie mit kritischer Miene auf Armeslänge von sich entfernt.
In diesem Moment läutete jemand im Kloster hastig und ungeschickt die Glocke. »Darauf werde ich die Antwort wohl nie erfahren«, stellte Carew fröhlich fest.
Und dann war Annetta auf einmal frei und sah nur noch eine Gestalt, die auf das hintere Ende des Gartens zueilte und ihren Blicken entschwand.
Kapitel 11
Mit nackten, wunden und eiskalten Füßen und einem durchnässten, von Blättern und Grasflecken übersäten Nachthemd machte sich Annetta auf den Rückweg ins Kloster. Das Glockenläuten hatte ihr einen Schrecken eingejagt: Das war nicht der übliche Ruf zum Gebet. Hatte man etwa ihre Abwesenheit bemerkt? Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, die gerade über die Gartenmauer stieg, hatte sie nicht nur die Prim, sondern möglicherweise auch noch die Morgenandacht versäumt. Bisher hatte sie für ihr allzu häufiges Fehlen in der Kapelle immer plausible Entschuldigungen gefunden, aber alle Schlagfertigkeit würde ihr nichts helfen, wenn sie erklären musste, warum sie frühmorgens in einem klatschnassen Nachthemd durch den Garten stromerte.
Als sie in die Küche schlich, musste sie feststellen, dass das gesamte Kloster in Aufruhr war. Nonnen rannten mit schiefen Hauben kreuz und quer durch den Flur, als sei ein Schwarm Hornissen hinter ihnen her. Als Annetta die Treppe zum Dormitorium der jüngeren Nonnen erreichte, kam ihr Suor Purificacion entgegen. Sie zumindest war vollständig angekleidet. Annetta verspürte den Impuls, kehrtzumachen und zu fliehen, aber es war schon zu spät, denn hinter ihr drängten andere Nonnen nach, die sie die Treppe hinaufschoben. Resigniert ergab sie sich in ihr Schicksal. Doch zu ihrer großen Verblüffung schien Suor Purificacion sie kaum wahrzunehmen und über ihr verwahrlostes Aussehen hinwegzusehen. Sie sagte kein Wort und hinkte eilig mit pochendem Gehstock an ihr vorüber in die Richtung des Aufenthaltsraums der Nonnen.
Im Schlaftrakt traf Annetta auf Ursia, die in ihrer Zelle mit der Haube kämpfte.
»Was ist denn los?«
»Wie meinst du das? Wir haben verschlafen, weiter nichts.« Ursia gähnte herzhaft. »Siehst du nicht, wie spät es ist? Kannst du mir bitte mal helfen, ich habe heute zwei linke Hände.«
»Verschlafen? Alle?«
»Sieht so aus. Du steckst ja auch noch im Nachthemd. Hörst du die Glocke nicht?« Ursia setzte sich mit dem Rücken zu Annetta auf das Bett. »Ach, was ist bloß los mit mir?«, jammerte sie. »Es fehlt nicht viel, und ich lege mich wieder hin und schlafe.«
Annetta half Ursia mit flinken Bewegungen beim Aufsetzen der Haube, dann lief sie rasch in ihre eigene Zelle am Ende des Ganges und schloss die Tür. Zitternd streifte sie das nasse Hemd ab und zog ein trockenes über. Aus einer der Truhen nahm sie einen Stapel Schals und schließlich eine Zobeldecke, eines ihrer kostbarsten Besitztümer, wickelte sich hinein und kletterte ins Bett. Nachdem sie sich ein paar Minuten aufgewärmt hatte, kam ihr ein neuer Gedanke. Sie stand wieder auf, setzte sich auf den Fußboden und stemmte die Füße gegen eine der schweren Holztruhen, bis sie sie so weit geschoben hatte, dass sie die Tür versperrte. Trotz der Zobeldecke fror sie noch, deshalb stieg sie erneut zitternd ins Bett, wo sie endlich in Ruhe nachdenken konnte.
Wer war der Mann im Garten? Kein Zweifel, er war derselbe, den sie unter den Hochzeitsgästen durch das Fernglas erspäht hatte, dem sie in den Garten gefolgt war und der seinen Schuh im Blumenbeet verloren hatte.
Suor Purificacion hatte ihn einen monarchino genannt. Annetta hatte so getan, als verstünde sie den Begriff nicht, aber das stimmte nicht ganz. Natürlich hatte sie die anderen Nonnen über solche Männer reden hören. Man erzählte sich Geschichten, viele Geschichten, über sie. Männer, die sich ein Vergnügen daraus machten – wie hatte Suor Purificacion es ausgedrückt? –, der Fleischeslust mit Nonnen zu frönen. Und allein der liebe Herrgott wusste, dass es in dieser Stadt voller Klöster, in der, wie es hieß, fast die Hälfte aller Frauen hinter Klostermauern weggesperrt wurde, immer genug Männer geben würde, die das Risiko bereitwillig eingingen.
Fleischeslust. Nun, wer immer er war, diese Lust konnte er zweifellos verschaffen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch einmal die beiden Körper vor sich, wie auf einem Gemälde – ihre Stellung, die Farben. Die blassen Gesäßbacken der Frau, die
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