Das Mädchen von San Marco (German Edition)
sie ihrem Liebhaber wie zwei Monde entgegenstreckte. Der konzentrierte Blick des Mannes, wie sein Kopf in den Nacken gesunken war, und dieser Laut, den er ausgestoßen hatte und der mehr einem Schmerz als der Ekstase zu entspringen schien.
Es war – und dieser Gedanke frappierte sie – ein schönes Bild gewesen.
Doch dann schoben sich andere, unangenehmere Gedanken in den Vordergrund. Sie hatte geglaubt, den Mann zu verfolgen, aber in Wahrheit war er ihr gefolgt und hatte ihr aufgelauert. Immer wieder spielte sie im Geist die Szene durch, sah sein Gesicht als Spiegelbild im Teich, fühlte seinen eisernen Griff an ihrem Handgelenk, die Leichtigkeit, mit der er sie überwältigt hatte. Eine heftige Gemütsbewegung überwältigte sie. So stark, dass ihr sogar Tränen in die Augen traten.
Warum hatte sie sich nicht stärker gewehrt?
Aber das war unmöglich gewesen. Oder nicht?
Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen aufschlug, schien die Sonne hell in ihre Zelle. Es war sicher schon nach zwölf. Jemand hämmerte gegen ihre Tür.
»Suora? Suora?« Sie hörte die quengelige und etwas näselnde Stimme der alten Suor Virginia und dann ein dumpfes Rumpeln, als die Tür gegen die Truhe schlug. »Was ist mit Euch? Seid Ihr unpässlich? Ihr müsst jetzt herauskommen, das wisst Ihr …«
Aber Annetta hatte keineswegs die Absicht, ihre Tür zu öffnen, und als sie nicht antwortete, gab die alte Nonne bald auf. Darauf hatte Annetta gehofft, und sie hörte zufrieden, wie sich Suor Virginias schlurfende Schritte über den Gang entfernten.
Annetta blieb auf dem Rücken liegen und starrte an die Wand. Sie fühlte sich nicht imstande aufzustehen, es ging beim besten Willen nicht. Sie brauchte noch mehr Zeit, um nachzudenken und zu verdauen, was sie gesehen und gehört – und nicht getan hatte. Machte sie die Tatsache, dass sie nicht sofort Alarm geschlagen hatte, sondern dem Eindringling in den Garten gefolgt war und dort mit ihm – wenn auch gegen ihren Willen – gesprochen hatte, nicht irgendwie zur Komplizin?
Es war der pure Glücksfall, dass das Kloster am Morgen so in Aufruhr geraten und ihre Rückkehr in diesem aufgelösten Zustand niemandem aufgefallen war. Aber konnte sie sich dessen sicher sein? Suor Purificacion hatte scheinbar durch sie hindurchgesehen, aber das bedeutete keineswegs, dass keine der Nonnen etwas mitbekommen hatte. Und mindestens eine würde zweifellos erfahren, welche Rolle sie, Annetta, in der Nacht gespielt hatte: die Geliebte des monarchino, wer immer das sein mochte.
In diesem Moment ertönte wieder ein lautes Klopfen an der Tür.
»Suor Annetta?« Diesmal war es eine strenge Stimme mit spanischem Akzent – Suor Purificacion. »Suor Virginia berichtet mir, Ihr seid unpässlich.«
Annetta rührte sich nicht und überlegte, wie sie reagieren sollte.
»Öffnet sofort diese Tür, Ihr wisst, dass es gegen die Regeln verstößt, die Zellentür zu verriegeln.«
»Wir machen uns Sorgen um Euch, suora« , piepste Suor Virginia mit ihrem dünnen Vogelstimmchen im Hintergrund.
Sorgen? Unsinn, ihr seid zwei sensationslüsterne alte Schnüfflerinnen und ich höre euch nicht zu, dachte Annetta. Sie würde stumm wie ein Fisch im Bett liegen bleiben. Sie drehte sich zur Wand und zog sich die Zobeldecke über den Kopf.
Es war dunkel unter der Decke und die Haare kitzelten sie an der Nase, aber endlich wurde ihr richtig warm. Dass an der Zellentür gerüttelt wurde, nahm sie nur gedämpft wahr und es kümmerte sie nicht. Sollte der Teufel doch das ganze Nonnenpack holen!
Sie blendete das Rütteln und Poltern aus, so gut es ging, und wandte ihre Gedanken wieder dem Eindringling zu. Warum fiel es ihr so schwer, die Erinnerung an den monarchino aus dem Kopf zu verjagen? Die Nähe eines Männerkörpers hatte sie verwirrt. Er war sehr schlank, hatte kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen. Wie seltsam, wie beunruhigend sich diese Berührung eines Mannes angefühlt hatte, nachdem sie praktisch ihr ganzes Leben unter Frauen verbracht hatte!
Annetta hatte sich tatsächlich vor Zeiten ein für alle Mal geschworen, dass sie keine Verwendung für einen Mann in ihrem Leben haben würde. Sie erinnerte sich an den Kunden ihrer Mutter, einen dickbäuchigen alten Mann, der noch dazu schlecht roch. Puh! Alle Pomade dieser Welt konnte den fauligen Geruch schlechter Zähne und die säuerliche Ausdünstung seiner Haut nicht überdecken. Ihr fielen seine tastenden Hände und sein heißer Atem wieder
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