Das Mädchen von San Marco (German Edition)
ein. Er hatte sie durch das Hemd hindurch in ihre kleinen Brustwarzen gekniffen und sein hartes Geschlecht in ihren geheimen Ort zu zwängen versucht. Immer noch verursachte ihr der bloße Gedanke an ihn Übelkeit.
Aber das heute früh – das war anders gewesen. Annetta konnte es sich nicht erklären. Es war wirklich äußerst erstaunlich, dass sie überhaupt keine Angst vor dem Mann gehabt hatte. Selbst als er sie gegen ihren Willen festhielt, war sie wütend, aber nicht ängstlich gewesen. Sie überließ sich noch einmal der Erinnerung an ihn – wie sich sein Atem an ihrem Hals angefühlt hatte, seine Lippen in ihrem Haar, sein muskulöser Körper ganz nahe an ihrem.
Und doch. Er hatte sich über sie lustig gemacht, als sei sie ihm völlig gleichgültig. Und dann der Ausdruck in seinen Augen: War es wirklich Ekel, was sie zu sehen geglaubt hatte? Was für eine Demütigung! Annetta verkrampfte sich vor Scham. Sie spürte, wie eine neue Welle von heftigem Zorn in ihr aufstieg. Er verdiente nichts als ihre Verachtung, dieser hundsgewöhnliche monarchino, dieser Dienstbote, dem man seinen niederen Rang an der Kleidung ansah. Und ein Ausländer war er zudem, was man an seiner Aussprache merkte.
Ihr Herz, das sich gerade einen Spalt breit geöffnet hatte, schnappte zu wie eine Falle.
Kapitel 12
Prospero Mendozas Werkstatt lag im Dachgeschoss eines vierstöckigen Hauses im jüdischen Ghetto und war kaum größer als eine Schiffskajüte. Wenn Paul ihn besuchte, ließ er sich für gewöhnlich von Carew begleiten, aber dieser war seit der Nacht in Constanzas Palazzo nicht mehr aufgetaucht, und so machte sich Paul mit dem Spinell, den er beim Kartenspiel gewonnen hatte, allein auf den Weg, der ihn an den Kanälen entlangführte.
Obwohl die Sonne schon seit zwei Stunden untergegangen und das Ghetto für die Nacht geschlossen war, vermochte es Paul, der die Wächter gut kannte, sich mit Hilfe einiger Münzen mühelos Eingang zu verschaffen. Nachdem er die Stufen zu Mendozas kleinem Dachkämmerchen hochgestiegen war, kündigte er sich mit dem vereinbarten Klopfzeichen an – vier Mal kurz, zwei Mal lang –, stieß die Tür auf und trat ein.
Trotz der späten Stunde saß der Alte noch über seine Werkbank gebeugt. In einem Auge klemmte eine Juwelierlupe, und sein langer Bart, der ihm im Stehen fast bis zu den Knien hing, lag über der Schulter. Prospero blickte nicht auf, als Paul eintrat, sondern betrachtete mit zusammengekniffenen Augen weiter den Edelstein, den er in der Hand hielt.
»Nun, Engländer, was kann ich für Euch tun?«
»Auch Euch einen guten Abend, mein Freund.«
»Seit wann bin ich Euer Freund?« Prospero nahm ein Stück Golddraht von der Werkbank, legte ein Maßband an und schnitt mit einer winzigen Schere die gewünschte Länge ab. »Ihr kommt aus einem bestimmten Grund her, wie jeder andere auch. Ihr wollt Steine kaufen und verkaufen, habe ich Recht? Ihr zählt nicht zu meinen Freunden«, erklärte er, während er aufblickte und Paul mit dem Auge durch die Lupe anblinzelte, »und keiner soll etwas anderes behaupten.«
»Wenn Ihr darauf besteht.« Paul lächelte den kleinen Mann an, der mit dem langen Bart und seinen Knopfaugen wie ein Gnom aus einer unterirdischen Märchenwelt wirkte.
»Nun also, Engländer«, fuhr Prospero etwas milder fort, »was habt Ihr heute für mich?«
Paul holte den roten Edelstein aus der Tasche und legte ihn vor den Juwelier.
»Sehr gut, ich sehe ihn mir später an, wenn Ihr es wünscht.« Prospero wies mit dem bärtigen Kinn auf einen Vorhang, der über dem Eingang zu einem zweiten Raum hing. »Ihr seid spät dran, er wartet schon auf Euch.«
Paul schob den Vorhang zur Seite und trat in das Nebenzimmer. Am Fenster stand, mit dem Rücken zur Tür, ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem prachtvollen eidottergelben Turban. Als er das Geräusch von Schritten hörte, drehte er sich um. Paul ließ die orientalischen Gewänder und die ungeheuerliche Nase auf sich wirken, die dem Mann wie eine doppelte Tulpenzwiebel mitten im Gesicht saß. Unverkennbar Ambrose Jones.
»Schau an – Ambrose.«
»Ah, da seid Ihr ja, Pindar. Es sieht Euch nicht ähnlich, andere warten zu lassen.«
Die beiden Männer musterten sich argwöhnisch.
»Ihr habt da eine hässliche Schwellung«, sagte Ambrose schließlich. »Lasst mich einen Blick darauf werfen. Ist sie gebrochen?«
»Nein.« Paul befingerte seine immer noch schmerzende Nase. »Nur verstaucht.«
»Ihr spielt Eure
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