Das Mädchen von San Marco (German Edition)
liegenden Bündel, auf die eine rudimentäre Landkarte gemalt war. »Hier kaufen sie ihre Gewürze« – er deutete mit dem Daumen auf eine versprengte Gruppe von Gewürzinseln am rechten Rand der Rolle –, »und dann bringen sie sie nicht etwa hierher über Land.« Er fuhr mit dem Zeigefinger im Bogen um die annähernd dreieckige Landmasse Indiens bis zum Hafen Ormuz und dann den Golf von Basra hinauf, ehe er zur persischen Wüste gelangte. »Von wo die Karawanen sie nach Aleppo befördern würden und dann weiter nach Venedig und Konstantinopel, wo unser Handelsposten liegt. Stattdessen segeln sie nach Süden« – sein Daumen wanderte auf der Karte nach unten um die weitaus größere Landmasse Afrikas herum – »zum Kap, genannt Buena Esperanza, Kap der Guten Hoffnung, auch wenn wir von dieser Hoffnung nicht viel profitieren werden. Denn obwohl die Reise um das Kap zehnmal länger ist, hat sie sich als zehnmal sicherer erwiesen als die alten Landwege in die Levante. Und wir wissen alle, was das jetzt schon für unsere Preise bedeutet.«
»Hat Parvish mir die Zahlen geschickt?«
»Das hat er in der Tat.« Ambrose wühlte in seinem Bündel und zog ein zweites Blatt hervor. Er setzte sich ein Brillengestell mit grün getönten Gläsern auf die enorme Nase und blinzelte kurzsichtig hindurch. »Wollen wir mal sehen … ah, da sind sie ja. In Aleppo wurde die letzte Lieferung Pfeffer zu zwei Schilling pro Pfund gekauft, im Osten kostet dieselbe Menge nur zweieinhalb Pence.«
»Darf ich sehen?« Paul nahm ihm das Papier aus der Hand. »Bei den Nelken ist es dasselbe. Kürzlich haben wir sie für vier Schillinge das Pfund in Aleppo gekauft, aber im Osten kostet dieselbe Menge nur neun Pence.« Paul überflog die Liste. »Zimt, Muskatnuss, bei allem dasselbe.«
»Kein Zweifel, sie haben uns gründlich die Suppe versalzen.«
»Wie wahr.« Nachdenklich reichte Paul das Blatt an Ambrose zurück. »Die Preise sind noch niedriger, als ich erwartet hatte.«
»Und bald werden wir nicht nur die Holländer als Konkurrenten haben. Ihr habt Parvishs Brief über unsere eigene Ostindien-Gesellschaft gelesen, den ich für Euch im Haus der … Dame gelassen habe?«
Paul nickte.
»Wenn unsere eigenen Kaufleute auch nur halb so erfolgreich wie die Holländer wären …« Ambrose schüttelte den Kopf.
»Eulen nach Athen tragen.« Paul stand auf und trat nervös ans Fenster. Die schmalen Zimmerchen im Haus gegenüber waren von flackerndem Kerzenlicht erhellt.
»Was bedeutet das?«
»Das ist ein griechischer Ausdruck. Es gab in Athen in der Antike sehr viele Eulen, und so wurden sie zum Sinnbild der Stadt. Wenn es an einem bestimmten Ort bereits einen Überfluss von etwas gibt, ist es unsinnig, noch mehr davon an diesen Ort zu bringen.«
»Nun, ich bin gerade auf dem Weg nach Athen«, bemerkte Ambrose verdrossen, »ich werde Euch wissen lassen, ob ich Eulen gesehen habe.«
»Was führt Euch dahin?«
»Parvishs Kabinett. Es kursieren Gerüchte, dass dort kürzlich eine Meerjungfrau auf den Markt gekommen ist, und ich soll sie für ihn erwerben.«
»Ich dachte, er hätte schon eine Meerjungfrau.«
»Er hat die Locke einer Meerjungfrau«, erwiderte Ambrose, »das ist ganz und gar nicht vergleichbar. Die Locke einer Meerjungfrau ist nichts weiter als ein Fetzen Seetang – das müsstet Ihr eigentlich wissen. Außerdem besitzt alle Welt so etwas. Aber diese ist echt, hat man mir versichert.«
»Hoho! Und Ihr glaubt das? Es ist nicht wieder nur ein Affenschädel, der auf einen getrockneten Fischschwanz genäht wurde oder irgendeine ähnliche Monstrosität?« Paul verzog skeptisch das Gesicht. »Wo habt Ihr die Informationen her?«
»Ihr wisst, dass ich meine Quellen nie preisgebe. Ich habe ein außerordentlich umfangreiches Netz von Informanten von hier bis Lime Street – unser guter Freund Prospero gehört im Übrigen auch dazu.« Ambrose, der dabei war, die Papierrollen wieder in seinem Bündel zu verstauen, hielt inne und betrachtete Paul über den Rand seiner Klemmbrille hinweg. »Wer, bitte, seid Ihr, die Geschichte mit der Meerjungfrau in Zweifel zu ziehen? Wer fand das ägyptische Krokodil für Parvish, hmm? Seine umfangreiche Sammlung seltsamer Vogelschnäbel aus dem Fernen Osten? Ganz zu schweigen von dem echten Horn eines Einhorns. Außer ihm besitzen nur die Medici-Fürsten eines, hat man mir hinterbracht.«
»Ambrose!« Paul sah, dass sich sein Gegenüber schon wieder echauffierte. »Das bezweifle ich alles
Weitere Kostenlose Bücher